Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheime Welt der Frauen

Titel: Die geheime Welt der Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilana Stanger-Ross
Vom Netzwerk:
kam ihr Atem stoßweise. Sie beobachtete, wie Timna den Kopf drehte und das heftige Keuchen hinter sich registrierte.
    Ein Mobiltelefon klingelte. Danke, seufzte Sima stumm. Timna blieb stehen, öffnete den Reißverschluss ihrer Tasche und prüfte die Nummer auf dem Display. »Nurit!«, rief sie, als sie das Telefon ans Ohr hielt. »Was gibt’s?«
    Sima hielt Schritt mit Timna, die schnell auf Hebräisch sprach und mit der freien Hand gestikulierte, während sie einen Block hinauf, einen anderen entlangmarschierten und an der Ecke vorbeigingen, wo Timna zum Haus ihrer Verwandten hätte abbiegen müssen.
    Wo geht sie hin?, fragte sich Sima und dachte an ein Apartmenthaus, ein leeres Grundstück, und war froh, dass sie hier war, um auf die junge Frau aufzupassen. Sie überquerte die Straße, als Timna sich verabschiedete, vorgewarnt von den vielen »Okays«, die vorausgegangen waren. Sima war stolz auf ihren Spürsinn, die diskrete schnelle Handlungsweise, im richtigen Moment zu wissen, wann sie die Straßenseite wechseln musste. Aber dann gingen zwei chassidische Teenager zu nah an Timna vorbei - sie hätten beiseitetreten und Platz machen sollen - und drehten sich um und stießen sich an, während sie Timna nachgrinsten.
    Sima wandte sich ab, entsetzt, wie tief sie gesunken war.
    Timna bog in die 16. Avenue ein und ging in einen kleinen Gemischtwarenladen. Sima beobachtete sie durch die Fenster des Automatenraums einer Bank auf der anderen Straßenseite. Es war ein Laden, in dem Sima nie gewesen war, obwohl er genauso aussah wie viele andere, in denen sie eingekauft hatte: große Schaufenster, gepflastert mit leuchtend bunten Plakaten, die Telefonkarten und fünfzig Prozent Rabatt versprachen, und davor ein blaues Holzgestell der Daily News , das mit Zeitungen
vollgepackt war. Eine Frau mit Kopftuch saß auf dem Boden daneben und streckte bettelnd einen Pappbecher aus.
    Timna kam mit einem Hochglanzmagazin unter dem Arm aus dem Laden heraus, gerade als ein Bus anhielt. Wie schafft sie ein so genaues Timing, dachte Sima und beobachtete, wie Timna vor dem Fahrer stehen blieb, ihre Metrokarte in den Entwerter steckte und wieder herauszog, bevor sie sich einen Weg durch die Fahrgäste bahnte.
    Der Bus fuhr ab, und Timna war fort. Unmöglich, ihr weiter zu folgen, obwohl Sima vermutete, dass sie den Bus zur U-Bahn-station nahm und von dort in die City fuhr. Es wurde bereits dunkel, es würde schon fast Nacht sein, wenn sie zu Hause ankam. Sima schüttelte den Kopf, es war zu spät, um sich aufzuregen, und sie machte sich langsam auf den Heimweg.

    Ein weiterer Monat verstrich, in dessen Verlauf sie die Tage im Kalender durchstrich, bis zu dem eingetragenen Termin. Ihre ordentliche Handschrift stand in starkem Gegensatz zu ihrer Angst: vor dem Arzt, vor der Gebärmutter-Biopsie. Sie bemühte sich, während der frühmorgendlichen U-Bahn-Fahrt wach zu bleiben und auf die Männer um sich und ihre Blicke zu achten. Es waren so viele Leute in der U-Bahn, so viele Fremde. Derartig eng zusammengedrängt zu sitzen - der Schenkel von jemandem presste sich an den ihren, als der Zug rüttelte und sie gegeneinanderwarf - war ein Übergriff, wie Sima ihn nie erlebt hatte.
    Anfangs hielt sie die Lippen fest zusammengepresst, die Augen auf die Reklameschilder, die Fenster oder auf den Boden gerichtet, und wollte nichts hören und sehen. Aber dann begann sie, verstohlene Blicke zu wagen: auf die verblichenen Umrisse eines eintätowierten Stiers mit erhobenem Huf, wie bereit zum Sprung, auf dem Arm eines Italieners in mittleren
Jahren; auf den Bartschatten über den aufgesprungenen Lippen eines puerto-ricanischen Teenagers, dessen Turnschuhe mit blauem Kugelschreiber vollgekritzelt waren.
    Wie seltsam, dachte sie, als sie den Blick durch den Wagen schweifen ließ, dass jeder hier einmal mit liebevollen Koselauten bedacht und abgöttisch geliebt worden ist: weiße, sorgfältig gebundene Schleifen unterm zarten Kinn, mit Bogenkanten verzierte Mützchen auf dem Haarflaum. Jeder war ein Baby gewesen, wie das, das sie sich ersehnte, und war jetzt zur Mittelmäßigkeit herangewachsen. Die eine hatte ein Muttermal am Kinn, aus dem das typische Haar herausstand, ein anderer einen weißen Bauch, der durch ein graues, mit Ölflecken übersätes T-Shirt nicht ganz bedeckt wurde. Waren sie nicht immer so hässlich gewesen? Waren die großen Poren, das zahnlose Lächeln, das übel riechende pomadisierte Haar - auf einem Finger mit gelb verfärbtem

Weitere Kostenlose Bücher