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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Ihre Stimme hatte sich verändert, ihre Vokale waren heller und deutlicher geworden. »Nimm bitte das beste Teegeschirr, Daniel.«
    Fay hatte das Teegeschirr in einem Trödelladen in Ely gekauft: Elfenbeintassen mit Goldrand. Daniel füllte die winzigen Täßchen mit Tee, konnte aber nichts trinken. Fays Fuß war bandagiert, und ihre Wangen hatten wieder ein bißchen Farbe bekommen, aber er fühlte sich schlecht und erschöpft. Er hatte das Gefühl, knapp einem Unheil entronnen zu sein. Er war unvorsichtig gewesen und hätte fast den Preis dafür bezahlen müssen. Er begleitete den Arzt zu seinem Wagen zurück, dankte ihm, bezahlte ihn diskret und kehrte dann zu Fay ins Haus zurück, wo er immer noch kaum glauben konnte, daß sie da und in Sicherheit war.
    Der Schnee schmolz, und die Steuerrechnung traf ein: Die Zahlen darauf erschreckten Nicholas. Gemeinsam mit Max’ Brief stopfte er die Papiere in den Schreibtisch seines Vaters. Im Moment konnte er sich damit nicht beschäftigen.
    Drakesden Abbey war voller Gäste, um die Inbetriebnahme des neuen Generators zu feiern. Nicholas hatte eine große Feier geplant: ein siebengängiges Dinner, gefolgt von Tanz und Spielen, Luftballons und vielen, vielen Kisten Champagner.
    Nach dem Essen ging Nicholas in den Raum mit dem Generator, und Hawkins löschte die Kerzen. Nur das Licht im Kamin erhellte die Dunkelheit. Ein fernes Brummen ertönte, als der Dieselmotor des Generators ansprang. Dann begannen die Lampen aufzuflackern, und alle hielten die Luft an. Einen Moment lang verlöschte das Licht wieder, erneut trat Dunkelheit ein, bevor es strahlend hell den Raum durchflutete.
    Nicholas lief in den Gang zurück.
    Â»Liebling …«
    Â»Glückwunsch, Sir Nicholas.«
    Â» Gut gemacht.«
    Â»Wirklich großartig …«
    Thomasine hörte das Klatschen und die Jubelrufe aus der Küche. Nicholas wirkte sehr stolz auf sich. Er trat zu seiner Mutter.
    Â»Nun, Mama – sieht der alte Kasten nicht herrlich aus?«
    Das hellere Licht brachte die Schäbigkeit der alten Möbel, der fadenscheinigen Teppiche und der verblichenen Tapeten zum Vorschein. Die ausgestopften Vögel unter ihren Glasstürzen wirkten geschmacklos und lächerlich, Relikte aus einer anderen Zeit.
    Alle drängten sich ums Fenster. Die Vorhänge waren nicht vorgezogen. Draußen spiegelten sich die Quadrate der erleuchteten Fenster auf dem Rasen, die Grashalme wirkten wie in Silber getaucht und der Nieselregen wie Goldfäden.
    Â»Wir sollten rausgehen.«
    Â»Wie aufregend …«
    Â»Der Garten ist beleuchtet, Nicky.«
    Â»Ja«, sagte Nicholas aufgeregt. »Mama – komm mit und sieh dir die Abbey an, wie du sie noch nie gesehen hast.«
    Lady Blythe stieß ein kurzes Lachen aus. »Das wäre wirklich herrlich. Es regnet ein bißchen, aber wenn du einen Schirm besorgen könntest, Nicky …«
    Die Vordertüren wurden geöffnet, die Gäste strömten die Treppe hinab. Die edelsteinbesetzten Stirnbänder der Damen und die perlenbestickten Kleider glitzerten im gleißenden Licht.
    Â»Wir müssen das Grammophon holen.«
    Â»Hawkins wird den Champagner bringen, nicht wahr, Hawkins?«
    Â»Der Rasen ist eine ausgezeichnete Tanzfläche.«
    Thomasine hatte ihren Regenmantel aus der Halle geholt. Sie wollte gerade den anderen folgen, als eine Hand nach ihrem Arm griff und eine Stimme ihr ins Ohr flüsterte:
    Â»Du willst doch nicht wirklich rausgehen, Thomasine? Denk an deinen Zustand, meine Liebe. Der geringste Ausrutscher … das wäre doch zu leichtsinnig.«
    Daraufhin ließ Lady Blythe ihren Arm los und ging an der Seite ihres Sohnes zum Haus hinaus. Eigensinnig fuhr Thomasine fort, ihren Mantel zuzuknöpfen. Sie war allein, alle andern waren schon in den beleuchteten Garten hinausgelaufen. Sie sah ihr Spiegelbild im Fenster: den vorstehenden Bauch und die dünnen Arme und Beine, die nicht zu dem rundlichen Leib zu passen schienen, und sie kam sich einen Moment lang häßlich vor. Aus immer größerer Ferne konnte sie die Rufe des Staunens und Jubels hören. Dann wandte sie sich vom Fenster ab, richtete sich auf und ging hinaus, um sich den anderen anzuschließen.
    Spät an diesem Abend spazierte Daniel am Flußufer entlang und sah die Lichter von Drakesden Abbey. Das Haus schien in der Dunkelheit zu schweben wie ein großer

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