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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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und gab das Startsignal. Die Landschaft mit den Windmühlen, den Hecken und dem Flußufer flog an ihm vorbei, alles verschwamm vor ihm und wurde konturlos. Mit gesenktem Kopf und schwingenden Armen sah Daniel nur noch das Eis zwischen seinen Füßen und die Spuren, die seine Schlittschuhe ins Eis kerbten, und hörte die Jubelrufe aus der Menge, als er an den anderen vorbeizog.
    Hinterher wurde ihm auf den Rücken geklopft und heißer Grog zu trinken gegeben. Er war aufgekratzt und leichtsinnig, doch das Hochgefühl wurde von leiser Trauer gedämpft. Vor zehn Jahren wären zweimal so viele junge Männer zum Rennen angetreten. Harrys Bruder, sein eigener, so viele andere …
    Fay fuhr wieder Schlittschuh, diesmal allein. Das Gefühl der Trauer ebbte langsam ab, als er ihren schwingenden leuchtenden Rock betrachtete, den rosigen Hauch auf ihrem sonst so blassen Gesicht. Dann bemerkte er, daß auch Nicholas Blythe auf dem Eis war. Daniel wußte inzwischen, was das ganze Dorf schon seit Monaten wußte: daß Thomasine Blythe ein Kind erwartete. Thomasine stand in ihren Pelz gehüllt neben dem Wagen. Einen Moment lang drehte sie sich um, und ihre Blicke trafen sich. Ein Anflug von Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, doch er sah sofort weg, als hätte er es nicht bemerkt. Die Entfernung zwischen ihnen war groß, viel größer als die schneebedeckte Fläche, die zwischen ihnen lag. Sie war jetzt Thomasine Blythe und damit eine Fremde – vielleicht eine Feindin. Die einstige Zuneigung füreinander hatte sich in den Jahren verflüchtigt.
    Ein Schrei von der Eisfläche ließ ihn herumfahren. Fay lag ausgestreckt in der Nähe des Ufers. Harry Dockerill half ihr auf, aber er schaffte es nicht, sie auf den Beinen zu halten. Daniel durchfuhr ein eisiger Schauer, als er sah, wie ihr Fuß einknickte. Die anderen beiseite schiebend, raste er zu ihr hin.
    Ihr kleines Gesicht war schmerzverzerrt. »Liebling«, flüsterte er und legte den Arm um sie. Gemeinsam mit Harry Dockerill trug er sie vom Eis. Jemand warf ein Stück Sackleinen auf den Boden, und sie legten Fay darauf. Daniel kniete neben ihr nieder und schnallte die Riemen ihrer Schlittschuhe auf. Ihr Fußgelenk begann bereits anzuschwellen, als er die Schnürsenkel ihrer Stiefel löste. Sie stöhnte auf, und sein Mund wurde trocken, als er an die gebrochenen Knochen und all das Leid vor fünf Jahren dachte, als sein Bein zerschmettert wurde. »Ist schon gut, Fay, ist schon gut«, sagte er, aber innerlich geriet er in Panik.
    Eine Stimme sagte: »Lassen Sie mich«, und ein Mann kniete sich neben ihm nieder. Er sah ein paar Jahre älter aus als Daniel, hatte rotblondes Haar und eine römische Nase.
    Â»Das ist Dr. Lawrence«, flüsterte Harry Dockerill respektvoll.
    Der Stiefel wurde fachgerecht ausgezogen, das angeschwollene Gelenk gedrückt und gedreht. »Nun, ich glaube nicht, daß es gebrochen ist, Mrs. …?« sagte der Arzt schließlich.
    Â»Gillory«, antwortete Fay. »Mrs. Fay Gillory.« In ihren Augen glänzten Tränen.
    Â»Aber schlimm verstaucht. Sie werden den Fuß ruhig halten müssen.«
    Daniel wurde flau vor Erleichterung. »Ich bring dich nach Hause.«
    Â»Nein – nein.« Dr. Lawrence stand auf und schüttelte den Kopf. »Ich fahre Sie beide in meinem Automobil nach Hause. Sie wohnen im Dorf, nicht wahr?«
    Schließlich mußten sie die Hälfte des Weges doch zu Fuß gehen, weil der Morris Oxford des Arztes die schneeverwehte Zufahrt zum Cottage des Hufschmieds nicht bewältigte.
    Daniel trug Fay in seinen Armen. Sie fühlte sich so leicht und zerbrechlich an. Sie war überhaupt keine Last. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie sah mitgenommen und kreidebleich aus. Im Haus, wo noch überall das schmutzige Geschirr vom Mittagessen herumstand, setzte er sie vorsichtig auf die Bank.
    Â»Hübsches kleines Haus«, sagte Dr. Lawrence und öffnete seinen Arztkoffer. »Wohnen Sie schon lange hier?«
    Daniel setzte Wasser auf, um Tee zu machen, und murmelte etwas. Fay antwortete schwach: »Erst seit eineinhalb Jahren, seit wir geheiratet haben. Ich stamme aus London.«
    Der Arzt bandagierte lächelnd ihren Fuß. »Noch jemand aus der Stadt, wie ich. Ich stamme aus Edinburgh. Ziemlicher Unterschied, nicht wahr?«
    Â»Ziemlicher Unterschied«, wiederholte Fay.

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