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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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wieder in sein Bettchen zurück.«
    Das Schreien hatte nachgelassen, aber die kleinen, geröteten Augen sahen mitleiderregend zu Thomasine auf.
    Â»Vielleicht hat er Durst, Nanny – eine Erkältung kann sehr durstig machen.«
    Nanny Harper lächelte nachsichtig. »Ich glaube – wenn ich das so sagen darf –, daß ich das am besten weiß, Euer Ladyschaft. Schließlich ist William Ihr erstes Kind, aber mein sechstes.«
    Thomasine mußte sich auf die Zunge beißen, um sich zu beherrschen und die richtigen Worte zu finden. Ruhig erwiderte sie: »Sie mögen sich um die Kinder anderer Leute gekümmert haben, Nanny, aber William ist mein Kind, und ich kenne ihn am besten. Und ich finde, es wäre grausam, ihn noch eine Stunde auf Essen oder Trinken warten zu lassen, und grausam, ihn in sein Bettchen zurückzulegen, wenn er sich offensichtlich auf dem Arm viel wohler fühlt.«
    Schweigen trat ein. Thomasine sah, daß Martha die Hand auf den Mund gelegt hatte und ihre Blicke zwischen Nanny Harper und ihr hin- und herschossen. Genausowenig entging ihr, daß Lally sie neugierig beobachtete und daß in ihren dunklen, schrägen Augen weder Anteilnahme noch Kritik zu lesen war.
    Miss Harper richtete sich zu voller Größe auf, so daß sich ihr Busen wie die Brust einer Kropftaube vorwölbte.
    Â» Niemals in all meinen Jahren als Kinderschwester ist meine berufliche Qualifikation angezweifelt worden, Lady Blythe …«
    Lally unterbrach sie: »Zeit zum Teetrinken, Thomasine. Unten werden sie vor Gier nach frischen Scones schon mit den Füßen scharren.« Sie sah aus dem offenen Fenster. » Schrecklicher Ort. Sieh dir das an – alles völlig grau. Eigentlich sollte doch Sommer sein. Wie hält Nick das bloß aus? Ich würde wahnsinnig werden, wenn ich wieder hier leben müßte.«
    Als Thomasine auf die Uhr im Kinderzimmer sah, stellte sie fest, daß es fast zehn nach vier war. Sie zwang sich, Miss Harper in die Augen zu sehen.
    Â»Sie werden William einen Schluck Wasser geben, Nanny. Und wenn er wieder zu schreien anfängt, lassen Sie mich holen. Und ich wünsche benachrichtigt zu werden, wenn Dr. Lawrence eintrifft.«
    Sehr vorsichtig bettete sie William wieder in seine Wiege. Als sie das Kinderzimmer verließ und die Treppe hinunterging, stellte sie fest, daß sie zitterte. Lally, die neben ihr war, sagte: »Sie weiß es vermutlich am besten, weißt du. Babys sind schrecklich komplizierte Wesen.«
    Vor der Tür zum Salon blieb Thomasine stehen. Lally fügte hinzu: »Ich sollte reingehen und die Sache hinter mich bringen. Sonst macht Marjorie wieder die Honneurs, und das wäre unerträglich. Ich kann es nicht ausstehen, wenn sich Marjorie so schrecklich aufspielt.«
    Thomasine holte tief Luft und trat in den Salon. Das Tablett mit den Teekannen, der unterteilten Teebüchse, den Kannen mit heißem Wasser und dem Spirituskocher stand bereits auf dem Tisch. Mädchen brachten Teller mit Teegebäck, Sandwiches und Kuchen herein. Thomasine setzte sich auf den einzig freien Stuhl neben dem Teegeschirr. Sie hatte diese Zeremonie noch nie gemocht. Alles war zwar sehr vornehm, aber schrecklich unpraktisch: Die silbernen Henkel der ziselierten Krüge und Kannen waren schmal und anmutig geschwungen, aber der Benutzer riskierte, sich die Knöchel zu verbrennen, und die Flamme des Spirituskochers loderte immer zu hoch oder ging ganz aus.
    Sie zwang sich zu äußerster Konzentration. Versuchte, die peinlichen Mißgeschicke des vorhergehenden Tages zu vergessen, nicht mehr an den Ausdruck des Betrogenseins in Williams Augen zu denken, als sie ihn in seine Wiege zurücklegte. Sich zu erinnern, in welche Kanne sie den indischen und in welche sie den chinesischen Tee geben mußte. Zu warten, bis das Wasser richtig kochte, damit der Tee richtig brühte. Sich nicht vorzustellen, daß alle sie anstarrten und nur darauf warteten, daß sie einen Fehler machte.
    Die Zubereitung des Tees gelang ohne Mißgeschicke, sie verschüttete keinen Tropfen und wußte sogar noch, daß die Frau des Bischofs Milch statt Zitrone nahm. Aber als sie aufstand, um ihrem Gast die Tasse zu reichen, sagte Lady Blythe laut: »Hast du nach William gesehen, Thomasine? Ich fand, daß er ziemlich krank aussah.« Sie starrte ihre Schwiegermutter nur einen Moment an, dann ließ sie die winzige Teetasse

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