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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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schließlich verklang, hörte sie ein anderes Geräusch, ein schreckliches, langgezogenes Knarren, als sich die Flügel, vom Sturm angetrieben, zu drehen begannen. All die Geräusche schienen sich in ihrem Kopf festzusetzen, und Fay rannte aus der Mühle in Richtung Deich davon.
    Er würde nicht kommen. Jetzt wußte sie, daß er nicht kommen würde. Einen Moment lang sah sie der Wahrheit ins Gesicht. Sie bedeutete ihm nichts, und er würde sie nie bitten, ihn zu heiraten. Doch sie ertrug es nicht, allein in dem schrecklichen Gewitter, an dem schrecklichen Ort zurückzubleiben. Sie begann, in Richtung Dorf zu laufen. Der Regen prasselte nieder, füllte den Deich, verwandelte den Staub in Schlamm. Ihre Füße in den leichten Stöckelschuhen verloren den Halt, sie rutschte aus. Binnen kürzester Zeit war sie bis auf die Haut durchnäßt. Die Abstände zwischen den Blitzen wurde immer geringer, die Donnerschläge immer ohrenbetäubender. Von Panik ergriffen, dachte Fay: Zähl die Sekunden zwischen Blitz und Donner. Schluchzend zählte sie: Eins, zwei, drei, vier, fünf  …, und bei jedem Zählen wurde der Abstand geringer. Tränen strömten ihr übers Gesicht und vereinigten sich mit den Regentropfen.
    Sie konnte nicht klar sehen, sondern sich nur mühsam am Wall des Deichs orientieren. Das einzige Licht kam von den flackernden Blitzen – der Abendhimmel hatte sich fast schwarz verfärbt, und die Landschaft hatte für sie ohnehin schon immer und überall gleich ausgesehen. Sie wußte nicht, wie weit sie von Drakesden entfernt war. Sie hatte nicht nur das Gefühl für Zeit, sondern auch das für Entfernungen verloren. Manchmal war der Himmel taghell, ein schauerliches, violettes Leuchten, von weißen Rissen durchzogen. Fay kletterte die Böschung des Erdwalls hinauf, rutschte ein paarmal zurück und hielt sich an den weichen Grasbüscheln fest.
    Als sie oben angekommen war, ließ der Sturm kurz nach, eine seltsame Stille trat ein, und Fay konnte die Holzplanke erkennen, die über den Deich führte. Als sie sich anschickte, sie zu überqueren, sah sie, nicht weit entfernt, die Umrisse des Dorfes. Schluchzend rang sie nach Luft. Noch nie hatte sie sich so gefürchtet.
    In der Mitte rutschte sie auf dem nassen Holz aus, versuchte, sich wieder zu fangen, und fuchtelte haltsuchend mit den Händen durch die Luft. Fay stürzte mit solcher Wucht in das schwarze schlammige Wasser des Deichs, daß ihr der Atem wegblieb. Einen Moment lang konnte sie sich nicht rühren, und das trübe Wasser drang ihr in Augen, Mund und Nase. Sie begann, wild um sich zu schlagen, um sich aus dem Morast zu befreien.
    Aber der Schlamm war dick und zäh, und Fay war erschöpft. Je mehr sie um sich schlug, desto fester hielt sie der Schlamm und zog sie unweigerlich nach unten. Bis sie aufhörte, sich zu wehren und die Augen schloß, während das Gewitter über ihr tobte.
    Thomasine erhielt mit der Nachmittagspost einen Brief von Hilda, der einzige Lichtblick an diesem bedrückenden Tag. Die Ereignisse der vergangenen Nacht lagen wie ein Schatten über ihr. Nicholas sah sie erst am Nachmittag wieder, als sie sich um vier im Salon zum Tee trafen. Thomasine hatte das Gefühl, das ganze Haus erbebe unter der Macht der Donnerschläge, und die Luft in seinem Innern sei so schwer geworden, daß man kaum mehr atmen konnte.
    Nach dem Tee folgte sie Nicholas auf die Terrasse hinaus. Einen Augenblick standen sie nebeneinander und starrten auf die Blitze. Die Parodie eines glücklichen Ehepaars, dachte Thomasine verbittert. Sie griff nach dem zusammengefalteten Brief in ihrer Tasche und zwang sich, ihn am Ärmel zu zupfen und mit ihm zu reden.
    Â»Nick – da ist etwas, worüber ich mit dir sprechen muß.«
    Er war von ihr weggegangen, als erinnerte auch er sich an die freudlose Umarmung der letzten Nacht. Schließlich wandte er den Blick von den gelben Blitzen am Horizont ab und sah Thomasine an.
    Â»Also, was gibt’s, meine Liebe?«
    Â»Nicht hier, Nick. Hier ist’s zu laut.«
    Ihre Worte gingen fast im Donner unter. Nicholas sah sie verständnislos an. Regen strömte ihm übers Gesicht und klatschte ihm das Haar an den Kopf. Thomasine sah sich verzweifelt um. Lady Blythe war noch immer im Salon. Thomasine hatte keine Ahnung, wo Lally sich aufhielt.Überall im Haus eilte Dienerschaft umher, zog

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