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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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den Weg hinunterging, rechnete Thomasine noch einmal alles durch. Die Ernte müßte genügend Profit abwerfen, um einen Teil des Überziehungskredits abzubezahlen und den Bankier zufriedenzustellen. Wäre dann noch genügend Geld übrig, um die Obststräucher zu kaufen, die sie für notwendig hielt, um ihr weiteres Überleben zu sichern? Sie würde an Max schreiben und ihn bitten, seinen ganzen Charme und Einfluß einzusetzen, damit die Gläubiger stillhielten.
    Die Tür vom Haus der Gillorys, deren Schloß noch immer nicht repariert war, stand angelehnt. Thomasine warf einen Blick ins Innere und sah Daniels fruchtlose Versuche, den Tisch aufzuräumen. Sie sah auch die Whiskyflasche, die auf dem schmutzigen Wachstuch stand.
    Daniel sah auf. »Mein Gott. Gerade bin ich den verdammten Pfarrer losgeworden. Und jetzt kommt die gute Fee schon wieder.«
    Fast hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre nach Drakesden Abbey zurückmarschiert. Doch mehr als alles andere wollte sie gerade von dort weg. Die Entdeckung der unbezahlten Rechnungen und das Gespräch im Damenzimmer bedrückten sie immer noch sehr. Mit erhobenem Kinn trat sie ein. »Ich bin gekommen, um zu sehen, wie es dir geht.«
    Â»Mir geht’s großartig«, antwortete er und deutete wild gestikulierend in der Küche herum. »Alle paar Minuten tauchen Wohltäter auf, und Harrys Ma schickt ihre Bälger mit Essen vorbei. Also geht’s mir großartig. Nichts zu tun für Sie, Lady Blythe.«
    Eine Reihe von Tellern mit verschiedenartigem, hoch aufgetürmtem Essen stand auf dem Herd.
    Â»Du hast das Essen nicht angerührt, das dir Mrs. Dockerill geschickt hat, Daniel.«
    Er goß etwas Whisky in ein Glas und ließ sich auf dem Sofa nieder. »Hab keinen Hunger gehabt.«
    Sie ging zum Herd. »Ich mach dir was warm. Du kannst doch nicht alles verderben lassen.«
    Â»Ach, um Himmels willen, gib’s dem verdammten Schwein. Ich hab dir doch gesagt, daß ich keinen Hunger hab.« Sie drehte sich um und sah ihn eindringlich an. All die Jahre, die sie sich kannten, hatte ihre Beziehung zwischen Freundschaft und Abneigung geschwankt, dennoch war er ihr immer tüchtig und stark vorgekommen. Jetzt erinnerten sie seine schreckliche Gereiztheit und der leere Ausdruck in seinen Augen plötzlich an Nicholas. Das verwahrloste Haus allerdings hätte Nicholas unerträglich gefunden. Aber genau wie er versuchte Daniel, die Vergangenheit zu verdrängen. Nicholas benutzte bloß keinen Alkohol dazu.
    Â»Du hast keinen Hunger, weil du zuviel trinkst, Daniel. Du wirst noch krank davon.«
    Sein Blick irrte unstet umher. Sein Zorn ließ plötzlich nach. »Spielt das eine Rolle?«
    Sie wußte, daß Nicholas sich langsam zerstörte, und ertrug es nicht, mit anzusehen, wie Daniel das gleiche tat.
    Â»Ja, das tut es. Es ist eine sinnlose Vergeudung.«
    Â»Das finde ich nicht.« Er nahm noch einen Schluck Whisky.
    Thomasine ging vom Herd weg und setzte sich neben ihn. Noch nie hatte sie ihre Worte so sorgfältig gewählt, dachte sie.
    Â»Was mit Fay passiert ist, war absolut schrecklich – und furchtbar ungerecht. Aber für dich ändert sich nichts zum Besseren, wenn du dich ebenfalls zerstörst, Daniel. Das bringt sie nicht wieder zurück.«
    Gemeinplätze, dachte sie. Abgedroschene Phrasen. Doch er sah sie kurz verwundert an.
    Â»Das weiß ich.« Das Glas zitterte in seiner Hand. »Aber es hält mich vom Denken ab, verstehst du?«
    Sie wußte, daß es keine Worte gab, um diese Art von Schmerz zu lindern. Wenn man stark genug war, lernte man schließlich, damit zu leben. Irgendwann steckte man die Menschen, die man verloren hatte, in ein bestimmtes Schubfach seiner Erinnerung und drehte nur manchmal den Schlüssel herum, um hineinzuspähen. Die meiste Zeit ertrug man es nicht einmal, von außen darauf zu sehen.
    Â»So eine schreckliche Art zu sterben«, flüsterte er. »Ständig muß ich daran denken. Der Schlamm … im Mund … in den Augen. Der dich blind macht. Dich erstickt. Ich kann nicht mehr schlafen … daß sie auf diese Art sterben mußte … der Schlamm … das Wasser … und das Gewitter. Sie hatte solche Angst vor dem Donner, Thomasine!«
    Sie sah die Tränen in seinen Augen. Das Glas glitt aus seiner Hand und zerbrach auf dem Ziegelboden. Er bedeckte das Gesicht

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