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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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mit den Händen, seine Schultern bebten. Sie legte den Arm um ihn, drückte ihren Kopf an den seinen und streichelte sein Haar.
    Nach einer Weile hörte sie ihn stöhnen: »Was bei der Untersuchung über sie gesagt wurde – so war es nicht. Zumindest anfangs nicht. Ich liebte sie. Sie war so schön.«
    Während sie ihn festhielt, spürte sie die Wärme seines Körpers, die Rauhheit seines Barts. Sie war sich der offenkundigen Tatsache bewußt, daß er ein Mann und sie eine Frau war. Sie stand auf, ging zum Herd und öffnete das Schürloch. Doch ihre Hände waren nicht ruhig, als sie Torfstücke auf die schwelende Glut legte.
    Â»Du weißt ja, wie es in Drakesden ist«, sagte sie schließlich. »Für dich ist es anders, weil du hier geboren bist. Jemand von außerhalb braucht sehr lange, bis er akzeptiert wird. Es muß schwer gewesen sein für Fay.«
    Thomasine starrte mit trübem Blick auf die Teller mit dem nicht angerührten Essen und erinnerte sich an ihre eigenen frühen Jahre in Drakesden, an den Kampf, sich an die Kälte, den Wind, die flache, nichtssagende Landschaft zu gewöhnen. An die Leute, die sie auf der Straße angestarrt und hinter ihrem Rücken geflüstert hatten. Sie erinnerte sich an Fay Gillory – die hübsche, schicke Fay Gillory mit ihren rotbemalten Lippen, ihren Stöckelschuhen, ihrer großstädtischen Art. Wie sehr sich die Leute die Mäuler über sie zerrissen haben mußten. Welch prickelnden Schauer es ihnen bereitet haben mußte, von ihrer Untreue zu erfahren.
    Daniel hatte sich erhoben und wischte sich mit dem Ärmel die Augen ab. Er ging zum Herd und starrte ebenfalls die Teller an.
    Â»Ich mach dir was warm«, sagte Thomasine. »Du ißt es doch, nicht wahr, Daniel?«
    Er nickte.
    Â»Ein Teil davon sieht schon ziemlich vergammelt aus. Wirf das in den Kübel, bitte.«
    Wenn er nur etwas tat, irgend etwas. Arbeit läßt den Schmerz besser aushalten. Wenn er nur wieder anfing, für sich selbst zu sorgen.
    Â»Harry hat die Tiere gefüttert«, fuhr sie fort, »aber das meiste hiervon kannst du dem Schwein geben. Mrs. Dockerill muß es ja nicht erfahren. Dieser Auflauf sieht noch ganz gut aus – ich mach ihn dir in ein paar Minuten warm.«
    Sie stellte den Teller in den Ofen. Daniels Bewegungen waren langsam und ungeschickt, als bedeuteten die einfachen Verrichtungen große Anstrengung für ihn. Es schmerzte sie zu sehen, welche Konzentration er aufbringen mußte, um das Besteck herauszusuchen, die flachen und tiefen Teller auf den Tisch zu stellen.
    Sie hörte ihn flüstern: »Was ich gestern gesagt habe, habe ich so gemeint, Thomasine. Es hat nicht nur der Alkohol aus mir gesprochen. Ich bin verantwortlich für Fays Tod, weil ich sie hierhergebracht habe, an einen Ort, an dem sie nie glücklich werden konnte. Sie brauchte – ach! –, sie brauchte hübsche Kleider, Kinobesuche und eine gewisse Art von vermeintlicher Vornehmheit. Das konnte ich ihr nicht bieten. Mir bedeuten diese Dinge nichts. Ich hätte sie nie heiraten dürfen.«
    Â»Daniel …«
    Er schüttelte den Kopf, wollte sie nicht weitersprechen lassen. »Es stimmt. Anfangs waren wir glücklich, glaube ich, aber allmählich … hat sich alles abgenutzt, Thomasine. Bis nichts mehr übrig war.«
    Nachdem sie von Fay Gillorys Tod erfahren hatte, wartete Lally verängstigt auf irgendeine Art der Vergeltung.
    Doch es gab keine Vergeltung. Obwohl bei der Untersuchung die Kette der Ereignisse, die zu der Tragödie geführt hatte, ans Licht gekommen war, blieb ein Glied in dieser Kette im dunkeln. Daniel hatte der Polizei nichts von ihrem Besuch im Haus des Hufschmieds erzählt. Sie zweifelte nicht an den Motiven für sein Schweigen, aber als sie den Bericht über die Untersuchung in der Lokalzeitung las, war sie sehr erleichtert.
    Bald fühlte sie sich jedoch genauso gelangweilt und einsam wie immer. Sie sehnte sich danach, nach London zurückzukehren, aber um diese Jahreszeit war London wie ausgestorben. Sie erhielt Briefe von Simon, Belle und Pip. Gereizt zählte sie die Tage. Auf der Suche nach Beschäftigung verlegte sie sich wieder auf ihren alten Zeitvertreib: heimliche Beobachtungen und Phantasien.
    Thomasine war oft von zu Hause fort. Lallys Interesse wurde angefacht, als sie bemerkte, daß Thomasines Abwesenheit zumeist

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