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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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bei den Blythes schon immer Brauch, nicht wahr?«
    Das Mädchen begann, das Teegeschirr abzuräumen. Sie blieben starr und schweigend sitzen – schließlich konnte man vor dem Personal nicht streiten. William war fast achtzehn Monate alt, dachte Thomasine verzweifelt. In nur fünfeinhalb Jahren hatten sie vor, ihn ins Internat zu schicken. Dann bekäme sie ihn höchstens noch drei oder vier Monate im Jahr zu sehen. Die Schule würde aus ihm machen, was sie aus Nicholas gemacht hatte: einen Menschen, der schon als kleines Kind gelernt hatte, all seine Sorgen in sich reinzufressen und von der Person, die er am meisten liebte, getrennt zu leben. Einen Menschen, der mit allen Mitteln versuchen würde, den Vorstellungen zu entsprechen, die seine Altersgenossen von Männlichkeit hatten. Nein. Das konnte sie nicht zulassen. Das war unerträglich.
    Die Grafton Galleries schlossen um zwei Uhr morgens. Lally, die ein rückenfreies silbernes Kleid, silberne Strümpfe und die Handschuhe trug, die in den Galleries beim Tanzen obligatorisch waren, fröstelte, als sie auf die Straße hinaustrat.
    Â»Müde?« fragte Simon Melville und legte ihr das Cape um die Schultern.
    Â»Ãœberhaupt nicht.« Lally sah zurück. »Wo ist Tiny?«
    Â»Tiny ist mit dem Pianisten nach Hause gegangen.«
    In den Grafton Galleries spielte eine Neger-Jazzband. Lally sah Simon an. »Wie entsetzlich dekadent.«
    Â»Tiny hatte immer einen Hang zur Gosse.« Ein Anflug von Abscheu strich über Simons hübsches Gesicht. »Wohin jetzt?«
    Die Straßen Londons waren kalt und herbstlich. Dunst sammelte sich in den Senken, ein Vorbote des dichten Nebels, den der Winter bringen würde. Lallys Ruhelosigkeit war noch schlimmer geworden, seitdem sie Drakesden verlassen hatte.
    Â»Ach – ich weiß nicht, Simon. Irgendwo anders hin.«
    Â»Ins Rectors? Ins Forty-three?«
    Lally schüttelte den Kopf. »Letzte Woche hat mich Pip ins Forty-three geführt. Und ins Rectors geht heutzutage jeder.«
    Simon schwieg einen Moment. Als sie zu ihm aufblickte, sah sie im Licht der trüben Straßenlaterne nur das glühende Ende seiner Zigarette und sein golden glänzendes Haar. Während der zwei Jahre, die sie sich kannten, hatten sie einige Male miteinander geschlafen. Doch Simon hatte noch immer etwas an sich, das sie ängstigte und zugleich faszinierte – etwas Kaltes, Reptilienhaftes, Distanziertes. Manchmal suchte sie seine Gesellschaft, manchmal mied sie ihn wochenlang.
    Â»Ich weiß, wohin«, sagte Simon und hielt ein Taxi an.
    Er brachte sie zu einem Klub in Soho. Der Eingang war eng und von einem riesigen Türsteher und anzüglichen Plakaten flankiert. In der Straße dahinter standen geschminkte, abwesend lächelnde Frauen in Hauseingängen, und Betrunkene torkelten über das feuchte Pflaster.
    Im Klub starrten alle Gäste sie an. Lally konnte ein paar Stühle und Tische erkennen, eine Bar, eine winzige Tanzfläche und eine kleine Bühne. Außer ihr befanden sich keine Frauen im Lokal, abgesehen natürlich von den Mädchen auf der Bühne. Sie blinzelte, um sich an das schwache Licht zu gewöhnen, nippte an ihrem Cocktail und verfolgte die Darbietung. Auf der Holzbühne tanzten ein halbes Dutzend Mädchen miteinander, wenn auch nicht ganz im Takt. Aus dem Lautsprecher plärrte es: »Yes, we have no bananas«. Ihre Brüste waren nackt, sie trugen nur Baströckchen und Stöckelschuhe. An den Baströckchen hingen verschiedene Früchte: Äpfel, Orangen, Birnen und natürlich Bananen. Lally kicherte.
    Ein schäbiger Vorhang fiel, und eine Pause folgte.
    Â»Möchtest du tanzen?« fragte Simon.
    Sie tanzten Tango auf dem abgewetzten Teppich vor der Bühne. Lally wußte, daß sie jeder Mann im Raum anstarrte. Sie genoß das Gefühl. Sie brauchte Männer, die sie wollten, die sie begehrten. Es half ihr, die schreckliche Zurückweisung zu ertragen, die sie vor einigen Monaten hatte einstecken müssen.
    Der Vorhang ging wieder auf, und die Musik spielte »Scheich von Arabien«. Diesmal war nur eine Frau auf der Bühne, die auf quastenbesetzten Kissen und Bahnen von Stoff lag. Sie trug eine glänzende Haremshose und einen Seidenschal sowie einen Schleier, der die untere Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Als sie zu tanzen, sich sinnlich zur Musik zu wiegen begann, sah Lally, daß ihre Augen

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