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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Tasche packte sie selbst. Nanny Harper schärfte sie ein, daß William seinen Hasen zum Schlafen brauchte, daß er keinen Milchpudding und keine Nieren mochte und daß ihm das Buch mit Grimms Märchen zuviel Angst einjagte.
    Als sie fort waren, saß sie auf der untersten Treppenstufe, den Kopf in den Händen vergraben. Ein tiefes, entsetzliches Klagegeräusch erfüllte die Diele, und es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß sie es war, die so verzweifelt um den Verlust ihres Sohnes weinte.
    Als er nach dem Besuch einer stürmischen politischen Versammlung in sein Untermieterzimmer in Bayswater zurückkehrte, paßte ihn seine Vermieterin beim Betreten des Hauses ab.
    Â»Sie haben Besuch, Mr. Gillory. Ich habe die Dame in den Salon geführt.«
    Daniel ging in den Salon im Erdgeschoß. Obwohl es erst Nachmittag war, wurde es bereits dunkel, und man mußte das elektrische Licht einschalten. Eine Frau stand in der Fensternische und sah durch die Stores auf die dämmerige Straße hinaus. Zuerst erkannte Daniel sie nicht, doch als sie sich umdrehte, sagte er verwundert: »Miss Harker!«
    Â»Daniel. Wie schön, Sie zu sehen.« Hilda Harker trat aus dem Schatten und streckte ihm die Hand entgegen.
    Er lächelte. Seit Jahren hatte er Hilda Harker nicht mehr gesehen, aber seiner Meinung nach hatte sie sich kein bißchen verändert. Der wadenlange Rock mochte vielleicht ein Zugeständnis an die moderne Zeit sein, und das braune Haar unter dem formlosen Filzhut war auf Kinnlänge gestutzt und von grauen Strähnen durchzogen, aber ansonsten sah sie genauso aus wie früher.
    Â»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Er starrte sie an wie einen Geist aus seiner Vergangenheit. »Ich habe das Gefühl, ich sollte meine Schuluniform tragen, und Sie sollten mir die Form des Sonetts erklären. Darf ich Ihnen Tee anbieten, Miss Harker? Mrs. Black ist stolz auf ihre Backkünste.«
    Dann bemerkte er den besorgten Blick in ihren Augen und ihre nassen, schmutzigen Schuhe. Freundlich sagte er: »Setzen Sie sich doch, Miss Harker, und wärmen Sie sich am Feuer.«
    Â»Ja. Natürlich. Wie unhöflich von mir.« Sie setzte sich, Daniel warf Notizbuch, Stift und Schal auf das Sofa und lief in die Küche, um seine Vermieterin um Erfrischungen zu bitten.
    Als er zurückkam, wärmte sich Hilda Harker die Hände am Feuer. Sie sah zu ihm auf.
    Â»Ich habe Ihre Adresse von Harry Dockerill erhalten, Daniel. Ich war in Drakesden, verstehen Sie?« Sie schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Es hat mir sehr leid getan, als ich von der Sache mit Ihrer Frau erfuhr. Was für eine schreckliche Geschichte. Sie müssen sie sehr vermissen.«
    Er senkte den Kopf. Seit er Drakesden verlassen hatte, hatte er sich eine Art Beschäftigungstherapie verordnet. Wenn er zu tun hatte, ging’s ihm gut, hielt er sich auf den Beinen. Es gab natürlich bestimmte Bereiche in London wie den Hyde Park und Kensington, die er meiden mußte, genauso wie es Fotos gab, die er nicht ansehen konnte, und bestimmte Verszeilen, an die er sich nicht zu erinnern wagte. Aber er lernte allmählich, die Tage und Nächte zu überstehen.
    Gerade im Moment wurde Fays Gesicht von einer anderen Erinnerung überlagert: rotes Haar, grüne, vor Lachen sprühende Augen.
    Â»Sie sind nach Drakesden gefahren«, ermutigte er Hilda, »um Thomasine zu besuchen?«
    Hilda hatte sich Tee eingeschenkt. Während sie den Zucker umrührte, hielt sie plötzlich inne. »Eigentlich nicht – es war eine ziemlich vergebliche Hoffnung …«
    Daniel fragte verwirrt: »Haben die Blythes Drakesden verlassen?«
    Â»Ich muß mich entschuldigen, Daniel. Ich habe Ihnen das alles nicht richtig erklärt.« Hilda stellte die Zuckerdose weg und richtete sich mit im Schoß gefalteten Hände auf. »Thomasine wird vermißt . Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen, sie zu finden.«
    Verblüffung trat an die Stelle der Verwirrung. »Vermißt?« wiederholte er.
    Hilda gelang ein kleines, tränenumflortes Lächeln. »Wenn eine meiner Schülerinnen eine Sache so erklären würde wie ich, würde ich ihr raten, tief Luft zu holen, die Gedanken zu sammeln und noch einmal anzufangen. Nun denn.« Mit zusammengepreßten Lippen und geschlossenen Augen hielt sie

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