Die geheimen Jahre
aber â¦.«
Daniel grinste. »Ich hab Sie schon immer für eine verkappte Rote gehalten. Unter dem konservativem ÃuÃeren schlägt das Herz einer Sozialistin.« Er hatte sich ihr gegenüber niedergelassen. Neugierig fragte er: »Wie kommen Sie darauf, daà Thomasine in London ist?«
»Ohne William ist sie sicher sehr unglücklich. Und ist London nicht ein guter Ort, um sich zu verstecken, wenn man unglücklich ist, wenn man allein sein möchte?«
Mehr als einmal hatte Daniel London selbst als Versteck benutzt, sich in seine dunklen Ecken zurückgezogen, in der Anonymität Schutz gesucht. »Wenn Thomasine allein sein möchte, Miss Harker, sollten Sie diesen Wunsch vielleicht respektieren.«
Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Daniel â ich habe Angst um sie.« Er sah sie an und nickte.
»Ich werde tun, was ich kann, aber es wird eine Weile dauern. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, Miss Harker, und ich melde mich, sobald ich Neuigkeiten habe.«
Als sie Antonias Haus verlieÃ, hatte Thomasine keine Ahnung, wohin sie gehen sollte. In ihrer Börse befanden sich sechs Pfund, der Rest von den zehn, die sie aus dem Safe in Drakesden Abbey genommen hatte. Sie fand einen Juwelier, dem sie all ihren Schmuck verkaufte. Eine Halskette, eine Art-déco-Brosche, ihren Verlobungs- und ihren Ehering. Dann begann sie, sich nach einer Bleibe umzusehen. Mit der U-Bahn fuhr sie ins Zentrum von London. Sie mied die Orte, an denen sie sich mit Nicholas aufgehalten hatte: Mayfair, Chelsea, Knightsbridge. Die waren jetzt für andere Leute. In Camden Town stieg sie aus und ging so lange, bis sie an einem Fenster ein schmutziges Schild sah, auf dem »Zimmer zu vermieten« stand. Sie klopfte und trat ein.
In ihrem Innern lieà der kurzfristige Energieschub bald nach, und Niedergeschlagenheit und Verzweiflung machten sich breit. Sie gab nicht viel aus, weil sie nicht viel aÃ. Sie zählte die Tage nicht mehr, weil sie zu einer grauen, ununterscheidbaren Masse wurden. Die groÃen Ereignisse in der Welt berührten sie nicht. Sie las die Ergebnisse der Wahlen an den Zeitungsständen, aber sie erschienen ihr unwichtig und uninteressant. Sie kaufte eine Zeitung und überflog die Stellenanzeigen, bewarb sich aber weder schriftlich noch telefonisch um eine Arbeit.
Eines Tages, als sie sich Garn besorgte, um ihre Strümpfe zu stopfen, kaufte sie sich ein glasiertes Hörnchen. Sie merkte, daà sie sich gehenlieÃ. Ihre Haare mussten gewaschen werden, ihre Strümpfe hatten Löcher, und ihr Pullover war schmutzig. Als sie sich zum Essen zwang, muÃte sie an William denken, der vor Vergnügen gelacht hatte, als sie ihn mit kleinen Stücken des Zuckergusses von seinem Geburtstagskuchen fütterte. Sie lieà ihr Hörnchen liegen, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es klopfte an der Tür.
Als sie öffnete, glaubte sie im ersten Moment zu träumen. Sie hatte den Vermieter erwartet, der die Wochenmiete abholen wollte, statt dessen stand Daniel Gillory vor ihr.
»Darf ich hereinkommen?« fragte Daniel.
Thomasine machte einen Schritt zur Seite und beobachtete, wie er in das kleine Zimmer trat. Er muÃte wohl real sein. Ihre erschöpfte Psyche hatte also nicht Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwechselt und Daniel fälschlicherweise nach Camden Town versetzt.
»Warum bist du hier, Daniel?«
»Ich habe dich gesucht. Deine Tante Hilda sorgt sich um dich.«
»Oh.« Sie runzelte die Stirn und setzte sich auf das Bett am Fenster. Es gab einen Stuhl, ein Bett und einen ziemlich wackeligen Tisch.
»Ich hab dich die ganzen vergangenen zwei Wochen gesucht«, fügte Daniel hinzu. »Eine junge Frau mit rotem Haar. Ich hab in allen Pubs herumgefragt.«
»Das hättest du nicht tun sollen. Du hättest mich allein lassen sollen.«
»Bist du krank?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nur müde.«
Schweigen trat ein. Sie ärgerte sich über Daniels plötzliches Eindringen in ihre Einsamkeit. Sie wollte, daà er ging.
»Miss Harker hat mir gesagt, daà du dich von Nicholas scheiden läÃt.«
Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesichtsausdruck war gelassen: weder miÃbilligend noch triumphierend. »Ja. Oder besser gesagt, Nicholas läÃt sich von mir scheiden. Ich kenne die Details nicht so genau.«
»Und das Kind?«
»Nicholas erhält das Sorgerecht.
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