Die geheimen Jahre
umarmte ihren Sohn, und er sagte mit leiser, unbeteiligter Stimme: »Mami, du drückst mich zu fest.« Sofort lieà sie ihn los, und er rannte zu den Dinosauriern zurück. Dabei tat ihr das Herz weh. Sie merkte, daà er sich allmählich von ihr zu entfernen begann.
Ihr Herz schmerzte immer noch. Sie war froh über die Gegenwart des Mannes an ihrer Seite. Die Wärme seiner Haut und die Straffheit seiner Muskeln gaben ihr Sicherheit. Seit zweieinhalb Jahren hatte sie niemanden berührt â niemanden geküÃt â, auÃer William und ihre Tanten. Sie hatte nicht bemerkt, wie sehr sie den Trost vermiÃte, den menschliche Nähe verschaffte. Hier oben, zwischen Baumwipfeln und Himmel, schien menschliche Nähe nicht mehr gefährlich zu sein.
Sie hatte die Arme voller Glockenblumen, als sie durch den Wald zur StraÃe zurückgingen. Dort lieà Daniel das Motorrad an. Ohne Erfolg. Immer wieder trat er aufs Startpedal. Die StraÃe war verlassen. Thomasine stand am StraÃenrand, während Daniel leise fluchend die Maschine zu untersuchen begann.
»Was ist denn kaputt?«
»Keine Ahnung. Das verdammte Ding ist manchmal ein biÃchen launisch. Aber ich glaube, ich kannâs reparieren.«
Thomasine setzte sich auf ein Gatter, während Daniel am Motor herumbastelte. Sie kannte sich weder mit Traktoren noch mit Autos, geschweige denn mit Motorrädern aus.
Weit und breit waren keine Häuser und keine Werkstatt zu sehen. Sie zog ihren Pullover wieder an: Es war erst Frühling, und die Tage wurden früh kühl.
Nach etwa zwanzig Minuten sagte Daniel: »Ich glaube, es ist der Vergaser. Mist!«
»Kannst du ihn heilmachen?« Thomasine sprang vom Zaun herunter.
»Ich glaube nicht. Dieses kleine Teil fehlt â siehst du?«
Sie sah auf die Stelle, auf die er deutete. Die verschiedenen Motorteile waren mit schwarzem Ãl überzogen, genauso wie Daniels Hände.
»Ich fürchte, wir müssen eine Werkstatt finden. Macht es dir was aus, ein Stück zu Fuà zu gehen?«
Sie schüttelte den Kopf und reichte Daniel schweigend ihr Taschentuch. Er wischte sich das Ãl ab und begann, die Maschine zu schieben. Thomasine ging neben ihm her.
Nachdem sie fast eine Stunde gelaufen waren, kamen sie zu einem Gasthaus. Daniel ging hinein, um sich nach einer Werkstatt zu erkundigen, Thomasine setzte sich auf eine wackelige Bank vor der Tür. Die FüÃe taten ihr weh, und sie fühlte sich erschöpft von dem langen Marsch. Der Himmel hatte sich zu einem violetten Grau verdüstert, und lange Schatten strichen über den Vorhof des Gasthauses.
Daniel kam wieder heraus. »Die nächste Werkstatt ist fünfzehn Meilen entfernt. Das einzige Transportmittel, das sie haben, ist ein alter Klepper, der aussieht, als würde er jeden Moment tot umfallen.«
»Ein Zug?« fragte Thomasine, aber dann fiel ihr ein: »Ach je. Keine Züge. Keine Busse. Wir müssen hierbleiben.«
Daniels Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. »Danach habe ich mich auch erkundigt. Die Wirtin kann uns etwas zu essen machen und uns für die Nacht unterbringen. Es gibt allerdings nur ein Zimmer.«
Sie wandte sich ab und hörte ihn sagen: »Ich kann hier drauÃen beim Motorrad schlafen â¦Â« Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist kalt, und du bist müde. Das ist nicht nötig. Du muÃt bloàâ¦Â« Sie brach ab und spürte, daà sie rot wurde.
»Mich betragen? Natürlich. Ich werde der perfekte Gentleman sein.«
Daniel trug sie beide als Mr. und Mrs. Daniel Gillory ein. Thomasine hielt ihre unberingte linke Hand im Ãrmel ihres Pullovers versteckt.
In einem winzigen Speiseraum neben der Bar aÃen sie Brathühnchen und Sirupkuchen. Das Gasthaus war sehr alt, mit schiefen Böden und Decken, und durch die Fenster zog es schrecklich herein. Im Kamin prasselte ein Feuer, und Funken sprühten in die Esse hinauf. Der Tisch wackelte, sie zwängten sich neben dem Feuer auf einer Bank zusammen und versuchten, die neugierigen Blicke der Einheimischen zu ignorieren. Nachdem sie den gröÃten Hunger gestillt hatten, unterhielten sie sich angeregt â über den Streik, seine Gründe und welchen Ausgang er nehmen würde, über Daniels Reise durch Europa und über Thomasines Arbeit. Und schlieÃlich redeten sie â unvermeidlicherweise â über die
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