Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
Polizei hat blindlings zugeschlagen. Frauen – Kinder. Und der Fahrer von dem Bus – er hatte furchtbare Angst.« Bei der Erinnerung schloß sie erneut die Augen und schüttelte den Kopf.
    Sie spürte, wie Daniel seine Arme um sie schlang. »Na komm, spring auf, und wir fahren weiter. Wir müssen nach Woodford und Buckhurst Hill. Und dann nach Epping Forest. Um diese Jahreszeit soll die Gegend von Glockenblumen übersät sein, wurde mir gesagt.«
    Sie fuhren zu den Buchenwäldern bei Epping. In einem Laden am Waldrand hatten sie Brot, Käse und eine Flasche Wein gekauft und saßen jetzt zwischen den knorrigen Wurzeln einer Buche, die halbgeleerte Weinflasche zwischen sich. Das Sonnenlicht sickerte durch die Bäume, große goldene Lichtkegel fielen vom Himmel auf den Waldboden. Die Glockenblumen wirkten wie ein blauer Schleier unter den jungen Farnbüschen. Die Luft war angenehm warm.
    Daniel erzählte Thomasine von der vergangenen Woche. »Ich bin mit dem Motorrad durchs ganze Land gefahren. Der Gewerkschaftskongreß braucht alle Kuriere, die er kriegen kann. Die Post kommt nicht an, weil alle Postzüge eingestellt wurden und kaum eines der Gewerkschaftsbüros Telefon hat. Ich war in Wales – Schottland – und Cornwall. Einmal war ich sechsunddreißig Stunden ununterbrochen unterwegs.«
    Â»Du mußt total kaputt sein.«
    Daniel schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich wird man von einer Art Hochstimmung beflügelt, der Überzeugung, daß dieses Chaos vielleicht doch ein gutes Ende nimmt. Daß sich alles ändern könnte.«
    Â»Glaubst du, daß das eintritt?«
    Daniel zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Diese ganze Auseinandersetzung scheint so … so überflüssig . Wenn die Regierung den Zechenbesitzern doch nur die Stirn geboten hätte. Wenn Lloyd George 1919 doch nur dem Befehl der Königlichen Kommission gefolgt wäre und die Nationalisierung durchgesetzt hätte. Es stimmt nicht, was die British Gazette schreibt, Thomasine. Niemand will eine Revolution, am wenigsten der Gewerkschaftskongreß.«
    Thomasine warf einem Rotkehlchen in der Nähe ein paar Brotkrumen hin. »Ich lese die British Gazette nicht.«
    Â»Aha.« Er stand auf. In der warmen Nachmittagssonne hatte er seine Krawatte abgenommen und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Thomasine saß auf seiner Jacke am Boden. Daniel stellte sich auf den untersten Ast des Baums, sah auf sie hinab und grinste. »Eine Konvertitin aus dem Bürgertum. Dann den British Worker? «
    Sie schüttelte den Kopf. »Weder noch, fürchte ich. Tagsüber gehe ich zur Arbeit, abends unterrichte ich meine Mädchen, und dann gehe ich schlafen. Da bleibt offensichtlich nicht viel Zeit für anderes.«
    Er suchte nach festem Halt für Hände und Füße und zog sich den Baum hinauf. »Das hört sich langweilig an, Thomasine.«
    Â»Die Arbeit ist nicht langweilig«, sagte sie abwehrend. »Sie gefällt mir. Und ich muß Geld verdienen für die Anwälte.«
    Eigentlich wollte sie ihm nichts von den Anwälten erzählen. Niemandem hatte sie davon erzählt – weder Antonia noch Hilda, auch den Leuten, mit denen sie zusammenarbeitete, nicht. Zu oft hatte sie sich in der Vergangenheit durch ihre Offenheit und Impulsivität in Schwierigkeiten gebracht. Es war besser, vorsichtig und auf der Hut zu sein. Der Wein mußte ihre Zunge gelöst haben.
    Daniel war inzwischen sechs Meter über ihr. »Welche Anwälte?« Seine Frage wurde von einem Regen aus Staub und Rindenstücken begleitet, der sie aufspringen ließ.
    Â»Also wirklich , Daniel!« Sie klopfte sich ab. »Die Anwälte, die ich wegen William aufsuche. Die sind schrecklich teuer.« Sie sah zu ihm hinauf. »Ich kann nicht mit dir reden, wenn du da oben bist. Komm doch runter.«
    Â»Nein. Komm du rauf. Man hat die herrlichste Aussicht von hier oben.«
    In dem Meer aus tiefgrünen Blättern war er kaum noch zu sehen. »Meine Schuhe  …«, wandte sie ein, doch dann schlug sie alle Vorsicht in den Wind, streifte Schuhe und Strümpfe ab und begann ebenfalls, den Baum hinaufzuklettern.
    Es gab viele Stellen zum Festhalten an dem glatten, grauen Stamm. In regelmäßigen Abständen breiteten sich große Äste aus, auf die sie sich mit ihren bloßen Füßen stellen konnte. Kleine Pfützen aus

Weitere Kostenlose Bücher