Die geheimen Jahre
Polizei hat blindlings zugeschlagen. Frauen â Kinder. Und der Fahrer von dem Bus â er hatte furchtbare Angst.« Bei der Erinnerung schloà sie erneut die Augen und schüttelte den Kopf.
Sie spürte, wie Daniel seine Arme um sie schlang. »Na komm, spring auf, und wir fahren weiter. Wir müssen nach Woodford und Buckhurst Hill. Und dann nach Epping Forest. Um diese Jahreszeit soll die Gegend von Glockenblumen übersät sein, wurde mir gesagt.«
Sie fuhren zu den Buchenwäldern bei Epping. In einem Laden am Waldrand hatten sie Brot, Käse und eine Flasche Wein gekauft und saÃen jetzt zwischen den knorrigen Wurzeln einer Buche, die halbgeleerte Weinflasche zwischen sich. Das Sonnenlicht sickerte durch die Bäume, groÃe goldene Lichtkegel fielen vom Himmel auf den Waldboden. Die Glockenblumen wirkten wie ein blauer Schleier unter den jungen Farnbüschen. Die Luft war angenehm warm.
Daniel erzählte Thomasine von der vergangenen Woche. »Ich bin mit dem Motorrad durchs ganze Land gefahren. Der Gewerkschaftskongreà braucht alle Kuriere, die er kriegen kann. Die Post kommt nicht an, weil alle Postzüge eingestellt wurden und kaum eines der Gewerkschaftsbüros Telefon hat. Ich war in Wales â Schottland â und Cornwall. Einmal war ich sechsunddreiÃig Stunden ununterbrochen unterwegs.«
»Du muÃt total kaputt sein.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich wird man von einer Art Hochstimmung beflügelt, der Ãberzeugung, daà dieses Chaos vielleicht doch ein gutes Ende nimmt. Daà sich alles ändern könnte.«
»Glaubst du, daà das eintritt?«
Daniel zuckte die Achseln. »Ich weià es nicht. Ich hoffe es. Diese ganze Auseinandersetzung scheint so ⦠so überflüssig . Wenn die Regierung den Zechenbesitzern doch nur die Stirn geboten hätte. Wenn Lloyd George 1919 doch nur dem Befehl der Königlichen Kommission gefolgt wäre und die Nationalisierung durchgesetzt hätte. Es stimmt nicht, was die British Gazette schreibt, Thomasine. Niemand will eine Revolution, am wenigsten der GewerkschaftskongreÃ.«
Thomasine warf einem Rotkehlchen in der Nähe ein paar Brotkrumen hin. »Ich lese die British Gazette nicht.«
»Aha.« Er stand auf. In der warmen Nachmittagssonne hatte er seine Krawatte abgenommen und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Thomasine saà auf seiner Jacke am Boden. Daniel stellte sich auf den untersten Ast des Baums, sah auf sie hinab und grinste. »Eine Konvertitin aus dem Bürgertum. Dann den British Worker? «
Sie schüttelte den Kopf. »Weder noch, fürchte ich. Tagsüber gehe ich zur Arbeit, abends unterrichte ich meine Mädchen, und dann gehe ich schlafen. Da bleibt offensichtlich nicht viel Zeit für anderes.«
Er suchte nach festem Halt für Hände und FüÃe und zog sich den Baum hinauf. »Das hört sich langweilig an, Thomasine.«
»Die Arbeit ist nicht langweilig«, sagte sie abwehrend. »Sie gefällt mir. Und ich muà Geld verdienen für die Anwälte.«
Eigentlich wollte sie ihm nichts von den Anwälten erzählen. Niemandem hatte sie davon erzählt â weder Antonia noch Hilda, auch den Leuten, mit denen sie zusammenarbeitete, nicht. Zu oft hatte sie sich in der Vergangenheit durch ihre Offenheit und Impulsivität in Schwierigkeiten gebracht. Es war besser, vorsichtig und auf der Hut zu sein. Der Wein muÃte ihre Zunge gelöst haben.
Daniel war inzwischen sechs Meter über ihr. »Welche Anwälte?« Seine Frage wurde von einem Regen aus Staub und Rindenstücken begleitet, der sie aufspringen lieÃ.
»Also wirklich , Daniel!« Sie klopfte sich ab. »Die Anwälte, die ich wegen William aufsuche. Die sind schrecklich teuer.« Sie sah zu ihm hinauf. »Ich kann nicht mit dir reden, wenn du da oben bist. Komm doch runter.«
»Nein. Komm du rauf. Man hat die herrlichste Aussicht von hier oben.«
In dem Meer aus tiefgrünen Blättern war er kaum noch zu sehen. »Meine Schuhe  â¦Â«, wandte sie ein, doch dann schlug sie alle Vorsicht in den Wind, streifte Schuhe und Strümpfe ab und begann ebenfalls, den Baum hinaufzuklettern.
Es gab viele Stellen zum Festhalten an dem glatten, grauen Stamm. In regelmäÃigen Abständen breiteten sich groÃe Ãste aus, auf die sie sich mit ihren bloÃen FüÃen stellen konnte. Kleine Pfützen aus
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