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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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dunklem Wasser mit Bucheckern darin hatten sich in den Astgabeln gesammelt. Als Thomasine nach unten blickte, sah sie, daß der Boden schon weit unter ihr lag und die verstreut herumliegenden Jacken und Schuhe sowie Daniels Motorrad ganz klein wirkten. Es war, als sähe man durch ein Fernrohr.
    Nach ein paar Minuten war sie auf gleicher Höhe mit ihm. »Es ist albern«, sagte sie. »Vollkommen albern.« Aber sie lächelte.
    Daniel rutschte den Ast etwas hinauf, so daß sie sich setzen konnte. Er sagte: »Du hast William verloren, weil Nicholas das Geld hatte, sich jede Menge Anwälte zu leisten. Und weil du wußtest, daß jedes Gericht von seinem Namen und Titel beeindruckt ist. Das ist es, worum es bei diesem Streik geht – daß jeder die gleichen Rechte bekommt, die gleiche Möglichkeit auf ein würdiges Dasein.«
    Â»Nein. Du täuschst dich, Daniel.« Sie schüttelte heftig den Kopf. Sie hatte jahrelang Zeit gehabt, um darüber nachzudenken. »Ich habe William verloren, weil ich eine Frau bin. Für einen Mann ist es nichts Besonderes, einem Mädchen ein uneheliches Kind anzuhängen. Stimmt doch, oder nicht? Ein Mann kann so viele Geliebte haben, wie er will, ohne daß man schlecht von ihm denkt. Im Gegenteil, eher wird er dafür noch bewundert und gilt als toller Hecht. Und ich war dumm – und unbedacht.«
    Dennoch wußte sie, daß Daniel teilweise recht hatte. Die ungewollten Kinder von wohlhabenden Mädchen wurden irgendwo in deutschen Kurorten zur Welt gebracht, in Pflege gegeben und schlichtweg vergessen. Oder in einer luxuriösen, verschwiegenen Klinik abgetrieben, wo sie in den Akten nur als kleines gynäkologisches Problem auftauchten. Sie bemühte sich, ihre düstere Stimmung abzuschütteln, den sonnenwarmen Tag und die herrlichen Blumenteppiche zu genießen. Das waren die Dinge, die ihr früher Freude gemacht hatten. Heute beschränkte sich die Freude auf einen Nachmittag im Monat, und auch dieses Glück wurde durch seine Flüchtigkeit getrübt. Manchmal dachte sie, ihr Herz sei im Laufe der Jahre verwelkt, ihre Zunge sei geschärft, und alles erscheine ihr in einem kälteren und weniger günstigen Licht. Die Jahre hatten sie verändert, und sie war nicht sicher, ob ihr diese Veränderung gefiel.
    Â»Schau«, sagte er sanft.
    Sie waren hoch genug oben, um die Wipfel der kleineren Bäume zu sehen. Die Glockenblumen lagen wie ein violetter Schleier, wie Wasser, über dem Boden. Weder Häuser noch Menschen waren zu sehen, nur Wald, der sich zu beiden Seiten erstreckte, ein Meer aus Grün, Braun und Blau.
    Â»Früher bin ich in Drakesden immer auf die Bäume des Wäldchens bei der Wiese geklettert«, sagte Thomasine plötzlich. »Von dort aus konnte man alles sehen. Es war besser, als auf dem Deich zu stehen. Dabei habe ich mir für gewöhnlich meine Kleider ruiniert – Tante Rose war immer sehr böse.«
    Die Brise bewegte die Baumwipfel. Daniel hatte den Arm um sie gelegt. Er sagte: »Ich erinnere mich, daß du den Hengst der Blythes geritten hast. Du hast nicht die geringste Angst gehabt. Nie hast du dich vor etwas gefürchtet.«
    Sie drehte sich zu ihm um. Die Buchenblätter warfen dunkle Schatten auf sein Gesicht. »Oh, ich hab vor vielem Angst. Vor einer ganzen Menge von Dingen.«
    Er schüttelte den Kopf. »Mir fällt keine einzige Frau in meinem Bekanntenkreis ein, die auf diesen Baum geklettert wäre. Kannst du dir vorstellen, daß Miss Millford, die mich für umwerfend hält, auf einen Baum klettert?«
    Sie erwiderte sein Lächeln. »Das liegt daran, daß Miss Millford eine Dame ist und ich nicht, sosehr ich mich auch bemühe.«
    Den Rücken an den Stamm gelehnt und die Beine in der Luft baumelnd, blieb sie still sitzen, ließ den Frieden auf sich wirken und sich von der Sonne Leib und Seele wärmen. Nur das leichte Wiegen der Bäume und die Wärme von Daniels Arm um ihre Schultern nahm sie noch wahr. Die höchsten Bäume erhoben sich hoch über sie, höher als die größten Dinosaurier im Naturkundemuseum. Gestern im Museum war einer von Williams Stiefeln aufgegangen, und sie hatte sich mit dem Kind auf dem Schoß auf die unterste Treppenstufe gesetzt, um ihn zuzuknöpfen. Lebhaft erinnerte sie sich an die Wärme seines kleinen Körpers, den frischen Duft seines Haars und seiner Haut. Sie

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