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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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beschreibenden Wohlgeruch eines sonnigen Maimorgens.
    Nach einer halben Stunde fuhren sie los. Als sie sich London näherten, wurden die Bäume spärlicher, Häuser und Fabriken traten an ihre Stelle, und statt der Stille herrschte Verkehrslärm. Die Luft war nicht mehr von Wohlgerüchen erfüllt. Thomasine hatte das Gefühl, als zöge sich die Umgebung um sie zusammen, schlösse sie ein und gäbe ihr alle Probleme der Gegenwart zurück. Sie beide wurden von der Stadt vereinnahmt und verschlungen, die ihre Leidenschaft entwertete und einen ernüchternden Keil zwischen sie trieb.
    Der Streik ging in die zweite Woche. Das Chaos, das die Abwesenheit der Transportarbeiter verursachte, wurde durch den Einsatz von Freiwilligen, durch Studenten, Debütantinnen und junge Damen der Gesellschaft ausgeglichen. Attraktive junge Männer in Knickerbockers oder weißen Kricketanzügen fuhren Straßenbahnen und Busse, bedienten Telefonanlagen und luden Waren auf Lastwagen. Bei Eisenbahnunglücken, die unerfahrene Lokführer verursachten, starben mehr Menschen als bei den sporadischen Unruhen, die in den Städten immer wieder aufflackerten.
    Am Dienstag, den sechsten Mai kehrte Sir Herbert Samuel aus Italien nach England zurück. Er wurde in Dover von Major Segrave, dem berühmten Rennfahrer, abgeholt, der ihn in seinem schnellen Sunbeam nach London brachte. Dort unterbreitete er dem Gewerkschaftskongreß ein Schlichtungsangebot. Da die Verhandlungen zwischen Regierung, Arbeitern und Zechenbesitzern in eine Sackgasse geraten waren, nahmen die Gewerkschaftsvertreter, die verzweifelt nach einer Einigung suchten, das Angebot dankbar an.
    Als Thomasine am Mittwoch abend aus ihrem Büro kam, wartete Daniel auf sie.
    Â»Der Streik ist vorbei, nicht wahr?« Sie gab ihm einen Kuß. »Eines der Mädchen im Büro sagte mir, daß er vorbei sei.«
    Â»Wir haben an alle Streikbüros Nachrichten geschickt, daß jeder wieder zur Arbeit gehen soll.« Aber Daniel wirkte abwesend und bedrückt.
    Thomasine drückte seine Hand. »Ich dachte, du wärst außer dir vor Freude, Daniel.«
    Â»Ich bin mir nicht sicher, ob wir gewonnen haben.« Er machte ein finsteres Gesicht und kickte eine Blechbüchse vom Gehsteig. »Als heute mittag die Nachricht kam, dachten alle, sie hätten einen Sieg errungen und feierten dementsprechend. Aber jetzt gibt es Gerüchte …« Er schüttelte den Kopf und steckte die Hände in die Taschen.
    Die Zeitungsstände waren noch leer, bemerkte Thomasine, und die Stimmen auf den Straßen wirkten aufgebracht und kontrovers. Leute stießen sie an und hasteten hin und her. Ab und zu rollte ein gepanzerter Wagen vorbei, oder Spezialeinheiten der Polizei schwärmten aus. Im Gegensatz zur regulären Polizei achteten diese Spezialeinheiten nicht auf Fußgänger und beanspruchten auf provozierende Art ihr Recht auf freien Durchgang. Aus der Ferne hörte Thomasine Schreie und das Geräusch von splitterndem Glas.
    Â»Macht es dir etwas aus, wenn wir in meine Wohnung zurückgehen?« fragte Daniel plötzlich. »Es könnten Nachrichten dort sein.«
    Sie setzten sich in Richtung King’s Cross in Bewegung. Als sie um die Ecke der Euston Road bogen, wurde der Lärm des Aufruhrs lauter. Vor ihnen war das Fenster eines Pubs eingeschlagen worden. Ein halbes Dutzend Mitglieder der Spezialeinheiten schlugen die Reste der Scheibe mit ihren Stöcken heraus.
    Â»Sie sind betrunken.« Daniel ergriff schützend Thomasines Arm und zog sie weiter. »Ganze Wagenladungen von Spezialeinheiten ziehen durch die Straßen, seit im Radio das Ende des Streiks durchgegeben wurde.«
    Â»Vielleicht sollten wir …«, begann Thomasine und brach dann ab.
    Vielleicht sollten sie was? Einen Polizisten rufen? Aber diese Schläger waren Polizisten – oder hatten sich zumindest im Verlauf dieser unwirklichen Tage die Rechte und Pflichten von Polizisten angemaßt. Außerdem schien es, als hätten die Anwohner die Sache selbst in die Hand genommen. Gruppen von Jugendlichen und Männern in Hemdsärmeln und Stoffmützen auf dem Kopf umringten die betrunkenen Spezialeinheiten und prügelten sich mit ihnen. Alkoholisiert und zahlenmäßig unterlegen, kamen die Einheiten gegen ihre Gegner nicht an. Manche versuchten wegzulaufen, andere sich zu wehren. Der Gehsteig war bald mit Glas- und

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