Die geheimen Jahre
aufrufen dürfen. Das war ein kapitaler Fehler. Die Regierung hat das britische Rundfunksystem unter ihrer Fuchtel â Baldwin machte sich auf exzellente Weise das Radio zunutze. Wenn die liberalen Zeitungen erschienen wären, hätte die bürgerliche Klasse vielleicht verstanden â¦Â« Er brach ab. Seine Faust schlug auf die Sofalehne, dann schwieg er.
Wie in Trance begann Thomasine, die Gaze und den Mull wegzuräumen. Simon Melvilles Worte klangen noch immer beunruhigend in ihren Ohren nach. Lally Blythe zur Freundin zu haben hieÃe mit einer Wildkatze befreundet zu sein. Hübsch anzusehen, aber Gott steh einem bei, wenn sie ihre Krallen ausfährt . Mit den Binden und der Schere in der Hand blieb sie wie angewurzelt stehen.
Daniel sah sie an. »Was ist?«
»Simon. Was er über Lally gesagt hat.« Sie warf das blutige Verbandszeug in der Küche in den Abfallkübel.
»Sie kann ein Miststück sein, weiÃt du.« Daniel war ihr in die Küche gefolgt. Thomasine vermutete, daà er nicht wirklich über Lally Blythe nachdachte, sondern mit dem verheerenden Ausgang des Streiks beschäftigt war.
Doch dann fügte er hinzu: »Es war Lally, die mich über Fay aufklärte.« Sie starrte ihn entsetzt an.
»Du meinst â über Fay und den Doktor?« fragte sie fassungslos.
»Mhm. Fay und Alexander Lawrence.« Er zog eine Grimasse, als er eine Flasche Scotch und zwei Gläser aus dem Schrank nahm. »Ich hätte natürlich wissen müssen, daà etwas im Gange war. Keine Ahnung, warum es mir gelang, mich so lange selbst zu täuschen.«
Sie versuchte, klar zu denken. Als Daniel ihr das Glas reichte, trank sie schnell einen Schluck, in der Hoffnung, der Whisky würde ihre Verwirrung und ihren Schmerz vertreiben. »Erzähl mir, was passiert ist.«
»Spielt das noch eine Rolle? Es ist ewig her.«
» Ich glaube, es spielt eine Rolle. Bitte, Daniel.«
Er zuckte die Achseln. »Lally kam an dem Morgen, an dem Fay starb, in mein Haus. Das habe ich bei der polizeilichen Untersuchung nicht gesagt â es schien nicht von Bedeutung zu sein. Ohne jede Relevanz. Früher oder später hätte ich es ohnehin selbst herausgefunden â schlieÃlich konnte ich mir ja nicht ewig was vormachen.«
»Aber warum , Daniel?« platzte sie heraus. »Es hatte doch nichts mit Lally zu tun. Sie kannte dich doch kaum. Warum sollte sie sich dafür interessieren ?«
Er runzelte die Stirn und wandte sich ab. Sag mir die Wahrheit, dachte sie. Du muÃt mir die Wahrheit sagen. SchlieÃlich drehte er sich zu ihr um und sagte gequält: »Sie war ⦠in mich verschossen. Sie war wütend, als ich nicht auf sie reagierte. Sie wollte mich aus der Fassung bringen, deshalb hat sie mir die Sache mit Fay erzählt.«
» Verschossen? Lally war kein Kind mehr, Daniel! Sie war ⦠einundzwanzig, glaube ich. Eine erwachsene Frau.« Und kein Unschuldslamm, dachte sie. Lally hatte schon mit neunzehn in Paris einen Liebhaber gehabt.
Thomasine ging ins Wohnzimmer zurück und lieà sich aufs Sofa sinken. Simon Melville mit seinem goldenen Haar und seiner Verachtung für seine Mitmenschen und das plötzliche vernichtende Ende des Streiks hatten sie zutiefst getroffen. Daniel setzte sich neben sie.
Nachdenklich sagte sie: »Aber wir alle haben Lally wie ein Kind behandelt. Sie ist immer hinter uns hergerannt, um uns einzuholen, hat immer eher zugeschaut, als selbst am Geschehen teilzunehmen. Ich frage mich, was aus ihr geworden ist? Ich hab sie seit Jahren nicht mehr gesehen.«
Er antwortete nicht. Als sie ihn anblickte, sah sie, daà Daniel sein Glas weggestellt und den Kopf auf die Sofalehne gelegt hatte. Seine Augen waren geschlossen. Sie sah ihn eingehend an, während er schlief: die langen dunklen Wimpern, die wirren goldblonden Locken, die ebenmäÃigen Züge seines Gesichts. Auf einmal merkte sie, wie sehr die Vergangenheit sie in ihren Fängen hatte und ihnen keinerlei Freiheit und Bewegungsmöglichkeit erlaubte. Sie wuÃte nicht, was ihr das Glücksgefühl verdorben hatte: die Ereignisse des Tages, Simon Melvilles kranke Ansichten oder die plötzliche Enthüllung eines Geheimnisses aus der Vergangenheit. Aber jetzt erkannte sie erneut, wovor sie in der letzten Woche ausgewichen war: Sie wagte es nicht, Daniel Gillory zu lieben. Sie hatte ihre Lektion zu gründlich gelernt und
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