Die geheimen Jahre
konnte sich an niemanden binden. Sie hatte so viele Menschen verloren, die sie geliebt hatte: ihre Eltern, ihre Schwester, ihr Kind. Jeder dieser Verluste hatte sie gezeichnet, verändert, Liebe zunehmend unmöglich werden lassen.
Ganz leise stand Thomasine auf, ging auf Zehenspitzen aus der Wohnung und schloà die Tür hinter sich.
Nachdem der alte Dilley gestorben war und sein Enkel Drakesden verlassen hatte, um in der Stadt zu arbeiten, hatte Drakesden Abbey keinen Gärtner mehr. Manchmal hackte Nicholas selbst das Unkraut und die Dornensträucher weg, manchmal schob er den Rasenmäher über die groÃe, leicht abfallende Wiese. Er genoà die körperliche Arbeit: Schon immer hatte er gern mit den Händen gearbeitet. Aber er wuÃte, daà er einen Kampf führte, den er nicht gewinnen konnte. Schlinggewächse erstickten die Rosen in dem ummauerten Garten, Wegerich und Moos wucherten im Grün des Rasens. Nicholas fand, daà das Gefühl des Zerfalls und der Auflösung eigentlich erst dann eingesetzt hatte, als Thomasine fort war. Während sie im Haus lebte â während sie die Farm leitete â, hatte sich langsam alles zum Besseren gewendet und geordneten, vernünftigen Gesetzen gehorcht. Daà Drakesden Abbey â und er selbst â Thomasine brauchten, stand für Nicholas ohne Zweifel fest. Die Glyzinie an den Hauswänden hatte inzwischen wild zu wuchern begonnen, weil sie im Frühjahr nicht beschnitten worden war. Beim Hinaufsehen stellte sich Nicholas vor, daà sie eines Tages die Fenster bedecken und die Türen versiegeln würde, so daà niemand mehr das Haus verlassen könnte, und sie alle in ihrer verblichenen viktorianischen Pracht gefangen säÃen.
In diesem Moment sah er an der linken Hausseite hinauf, spähte zwischen den dichten purpurfarbenen Blüten, den Blättern und dicken gewundenen Ãsten nach oben. Als er durch das Gewirr von alten Schuppen und Komposthaufen, das sich vom Labyrinth bis zum Haus erstreckte, gegangen war, hatte er gedacht, er hätte eine kaputte Stelle im Mauerwerk der Abbey entdeckt. Der helle Sonnenschein überzog Drakesden Abbey mit einem Muster aus Licht und Schatten. Mit zusammengekniffenen Augen sah Nicholas, daà die Ãste der Glyzinie dunkle Schlangenlinien auf die Wand warfen. Wahrscheinlich war er nur einer Sinnestäuschung aufgesessen, dachte er. Das Haus stand nun seit fast zweihundert Jahren. Die Fundamente von Drakesden Abbey waren auf dem einzigen festen Grund im Umkreis von Meilen errichtet worden.
»Entschuldigen Sie, Sir Nicholas, Ihre Ladyschaft bittet Sie zu sich.«
Er wandte den Blick von der Mauer ab und bemerkte das Hausmädchen. »Danke, Ellen. Jetzt gleich?«
»Ja, Sir.«
Nicholas folgte dem Mädchen zur Vordertür. Es war vier Uhr: Zeit zum Teetrinken. Oft richtete er es geschickt so ein, um vier nicht im Haus zu sein.
Seine Mutter befand sich im Salon, umgeben von den Utensilien des Teeservices, aber sie war nicht allein, wie er erwartet hatte. Nanny Harper war bei ihr.
»Nanny.« Nicholas versuchte ein joviales Lächeln, aber die Frau vermittelte ihm immer ein Gefühl der Beklommenheit. »Ich hoffe, Ihre Anwesenheit bedeutet nicht, daà mein Sohn sich schlecht benommen hat.«
»Nein, Sir Nicholas. Ich habe Lady Blythe meine Kündigung übergeben.«
Nicholas stöhnte innerlich auf. Das Personal auf Drakesden Abbey bestand inzwischen nur noch aus einer Köchin, einem Stubenmädchen, einem Kindermädchen und einem schwachsinnigen vierzehnjährigen Jungen.
»Ach, kommen Sie, Nanny.« Er versuchte beschwichtigend zu klingen, da er wuÃte, daà seine Mutter ihn beobachtete. »Ich bin sicher, daà das nicht nötig ist. Wenn William ungehorsam ist ⦠wenn Sie mit Ihrer Unterkunft nicht zufrieden sind â¦Â«
»Das ist es nicht, Sir.«
Wenn die gräÃliche Person ihn auf diese Weise ansah, fühlte auch er sich wie ein ungezogener Vierjähriger. »Was ist es dann? Martha?«
»Nein, Sir. Obwohl das Mädchen vulgär und schlecht erzogen ist.«
Nicholas wurde nervös und konnte sich keinen Reim auf das Ganze machen. »Also, nun sagen Sie schon, was ist es dann, Nanny?«
»Ich habe einen besseren Posten gefunden, Sir. Lady Torrington in Surrey hat mir eine Stelle angeboten.«
»Oh«, antwortete Nicholas kleinlaut. Ihm fiel keine Erwiderung ein. Die
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