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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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nicht. Thomasines Stiefel und der Saum ihres Rocks waren bald durchweicht und schmutzig, und die Seidenrose auf ihrem Hutrand hing welk herunter. Jeder Muskel ihres Körpers schien zu schmerzen. Zu viele Proben für zu viele Aufführungen, zu viele Stunden in zugigen Hallen, wo sie Binden aufrollte und fürs Rote Kreuz Verbandsmaterial einpackte. Die überschäumende Freude der Menge über das Kriegsende sprang nicht auf sie über.
    Aber sie konnte nicht nach Teddington zurück: Sie konnte nur in der Richtung weitergehen, die die Menge gerade einschlug. Thomasine drückte ihre Tasche an sich und klammerte sich fest an Alices Arm. Jauchzend und jubelnd stimmte Alice in den Gesang der anderen Londoner ein. Am Piccadilly hätte Thomasine im Gewühl der Menge nur von einer Seite des Platzes auf die andere gehen können. Ihre Füße berührten kaum den Boden, Ellbogen bohrten sich in ihre Rippen, hoben sie hoch und rissen sie im Strom der schwankenden Menschenmenge mit.
    Als sie Tafalgar Square erreichten, war es fast dunkel. Die Spitze von der Nelson-Säule verbarg sich in Regen und Nebel. Um die Grundpfeiler der Säule hatte man erbeutete Kanonen und Lafetten aufgereiht. Leute rissen Schilder von Läden und Bussen und warfen sie in ein schnell aufgetürmtes Freudenfeuer. Jemand schleuderte ein Streichholz aufs Holz, und Flammen loderten auf, die am Podest der Säule hochzüngelten und die Gesichter der Menschen in ein gespenstisches Licht tauchten. Die Menge wich vor dem Feuer zurück, und Thomasine wurde zwischen einer Fabrikarbeiterin und einem großen Matrosen eingeklemmt. Als das Gedränge endlich nachließ, konnte sie nicht mehr aufhören zu husten.
    Â»Alles in Ordnung, Süße?« fragte der Matrose.
    Sie schaffte es, zu nicken. Alice sang mit der Menge »Tipperary«. Die Lautstärke ihres Gesangs war überwältigend, das Lied eines Kolosses, das alles andere übertönte. Der Matrose hinter ihr sagte etwas, aber sie verstand ihn nicht. Er schien tonlos die Lippen zu bewegen, wie ein Filmstar. Gesichter mit geöffneten Lippen, Worte formend, umdrängten sie. »It’s a long way to Tipperary, it’s a long way from home.« Es roch nach Bier, nach Zigaretten und dem Rauch des Freudenfeuers.
    Es war kaum zu glauben, doch alle begannen zu tanzen. Tausende von Menschen schlossen sich zu einer einzigen langen Schlange zusammen und kreisten um den Platz. Als sich Thomasine umdrehte, war Alice nicht mehr neben ihr. Der große Matrose streckte die Hand aus, und eine blasse Munitionsarbeiterin ebenfalls. Einmal sah sie kurz Alices blonden Kopf über der Menge auftauchen, dann war sie verschwunden. In Rauch, Regen und zunehmender Dunkelheit nur undeutlich erkennbare Gesichter zogen an Thomasine vorbei: Soldaten, einige von ihnen mit entstellenden Narben, andere mit Verbänden um den Kopf oder den Arm in der Schlinge. Mädchen vom Land und Hilfsschwestern, von der Hitze gerötete Gesichter, die Haare vom Regen durchnäßt. Munitionsarbeiter mit bläulich verätzter Haut. Das Feuer warf schwarze Schatten auf ihre Gesichter, ließ sie alt und grotesk, kaum noch wie menschliche Wesen erscheinen.
    Die Menge zog Thomasine in diese und jene Richtung. Als sie nach unten blickte, bemerkte sie plötzlich, daß ihre Handtasche verschwunden war. Die seidenen Henkel baumelten noch an ihrem Handgelenk, aber die Tasche war weg. Sie sah sich verzweifelt um, spähte zwischen die Unmenge tanzender Beine, konnte aber nichts entdecken. Ihr Geldbeutel, ihre Tanzschuhe, ihr Tanzkleid und ihre Hausschlüssel – alles war in der Tasche gewesen. Panik schnürte ihr den Hals zu. Jemand rempelte sie von hinten so heftig an, daß sie fast hinfiel. Den Blick noch immer suchend zu Boden gerichtet, versuchte sie, sich zum Rand des Platzes durchzukämpfen.
    Es schien Stunden zu dauern. Einige Leute beschimpften sie, andere versuchten, sie zu küssen. Sie ließ sich jedoch nicht beirren, war wild entschlossen, dem Platz zu entkommen und nicht wieder in den Siegestaumel der tanzenden Menge zu geraten. Immer wieder wurde sie von der Menschenmasse so heftig eingezwängt, daß sie plötzlich Sternchen an dem schwarzverhangenen Himmel sah. Es war, als kämpfte sie gegen die Fluten eines reißenden Stroms an.
    Als sie schließlich St. Martin’s erreichte, hatte sie nicht nur ihre Tasche, sondern auch ihren Hut

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