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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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besonders hoch. Der Weltkrieg trennte Männer von Frauen, Soldaten von Zivilisten. Inmitten von Blutgemetzeln und Schmerzensschreien wurde das zwanzigste Jahrhundert geboren.
    Sie waren gerade in einer Gemeindehalle in Brompton und probten für eine Revue namens Sunny Days , als sie die Nachricht hörten. Es klopfte an der Tür, und die Schwester des Pianisten trat ein. Sie flüsterte dem Pianisten etwas zu, er unterbrach sein Spiel und flüsterte wiederum dem Choreographen etwas zu.
    Â»Der Krieg ist vorbei. Der Waffenstillstand ist unterzeichnet worden.«
    Jubel und Pfeifen brachen aus. Thomasine ging zum Fenster und sah auf das graue London hinaus. Der dichte Regen war durch den Nebel fast nicht wahrzunehmen. Wasser tropfte von den schwarzen Blättern der Bäume und sammelte sich in den Rinnsteinen entlang der Straße. Auf den Gehsteigen drängten sich Menschen, die meisten in Uniform, die in alle Richtungen hasteten. Die Plakate (so viele Plakate) an den Bäumen, den Briefkästen, den Wänden von Läden und Häusern waren eingerissen, und ihre Ränder kräuselten sich im Regen.
    Thomasine schmerzte der Kopf. Der Krieg ist vorbei, der Waffenstillstand ist unterzeichnet worden . Doch man wollte nicht glauben, daß die Schrecken, die das Leben während der vergangenen vier Jahre so grundlegend erschüttert hatten, vorbei sein sollten. Ihr war es inzwischen vorgekommen, als nähme der Krieg nie ein Ende, als gäbe es keine Hoffnung. Als würden der Nahrungsmangel, die Trübseligkeit der unbeleuchteten Straßen, das schreckliche Durchforsten der Gefallenenlisten nach Namen von Bekannten auf ewig so weitergehen.
    Â»Ein paar von den Mädchen gehen ins West End hinunter. Kommst du mit, Thomasine?«
    Sie drehte sich vom Fenster weg, wandte sich ab von dem Anblick der Straßen und der Erinnerung an die vergangenen vier Jahre und lächelte ihre Freundin Alice an. »Natürlich. Sobald ich mich umgezogen habe.«
    Der Pianist packte seine Noten ein, der Choreograph hatte den Raum bereits verlassen. Die Tänzerinnen zogen sich in der Damentoilette um und drängten sich in dem engen, ungeheizten Ort zusammen, in dem es nach Schweiß und billigem Parfüm roch. Der Nebel und der Regen draußen rochen nach Rauch, Staub, Abgasen von Autos und Taxis und nach den Pferdewagen, die sich durch die Straßen zwängten und alle ins West End wollten.
    Alice hatte sich bei Thomasine eingehängt. Die Menge auf den Gehsteigen drängte auf die Fahrbahnen, ein buntes und zunehmend fröhlicheres Gemisch aus Männern und Frauen in den verschiedensten Uniformen. Jeder schien eine Flagge zu tragen: englische, amerikanische, belgische, französische und koloniale Flaggen flatterten in der nebeligen Luft. Bald mußten die Autos Hupkonzerte veranstalten, um durch das Gedränge zu kommen, bald hingen an jedem Fahrzeug Menschentrauben oder saßen auf Kühlerhauben und Dächern.
    Thomasines Hals war trocken und rauh. »Ich bin total ausgedörrt«, sagte sie. »Ich hatte heute morgen keine Lust zu frühstücken. Sollen wir …?«
    Sie standen vor einem Teesalon. Alice nickte. Drinnen war zu ihrem Erstaunen ein kleiner Ecktisch frei. Die Tür des Teesalons schloß sich hinter ihnen und sperrte einen Teil des Lärms aus.
    Â»Ich könnte auch eine Tasse vertragen.« Alice setzte sich und überflog die Speisekarte. »Und ein Hörnchen.«
    Sie gaben ihre Bestellung bei der Bedienung auf. Thomasine lehnte kopfschüttelnd die Zigarette ab, die Alice ihr anbot.
    Â»Ich weiß«, sagte Alice grinsend. »Mutter wäre sicher schockiert. Anständige Mädchen rauchen in der Öffentlichkeit nicht. Aber – Mutter ist nicht hier, und ich bin kein so anständiges Mädchen.« Sie kicherte und zündete die Zigarette an. Der Rauch brachte Thomasine zum Husten.
    Sie brauchten den ganzen Nachmittag, um zum Trafalgar Square zu kommen. Den größten Teil des Weges gingen sie zu Fuß, mitgerissen von der Menge aus Tommys, Matrosen, Yankees, Belgiern, Frauenkorps, Marinehelferinnen und Arbeiterinnen von Munitionsfabriken. Einmal sprangen sie auf einen Bus auf und standen dicht zusammengedrängt auf dessen Trittbrett. Doch der Bus fuhr nicht seine planmäßige Strecke, sondern blieb am Piccadilly stehen, wo ihn die dichte Menschenmenge am Weiterfahren hinderte.
    Der Regen hielt an, der Nebel lichtete sich

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