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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Daniels Leben, ihrer aller Leben angetan hatten. Daniel hielt sie fest, während sie weinte, und als Thomasine schließlich aufhörte, reichte er ihr sein Taschentuch.
    Â»Ich hab nach dir gesucht«, sagte sie mit schwankender Stimme. »Ich hab deinen Namen in den Zeitungen gesucht. Jeden Tag.«
    Er sah auf sie hinab. »Ich hab in Passchendaele nur einen Kratzer abbekommen. Das war alles. Ich hab Glück gehabt.«
    Thomasine schneuzte sich und reichte Daniel das Taschentuch zurück. »Ich bring dich nach Hause. Es ist spät«, sagte er.
    Er schob ihre Hand unter seinen Ellbogen, und sie gingen die Gasse hinunter. Daniels Gang war nicht gleichmäßig, er trat mit einem Fuß stärker auf als mit dem anderen. Der Kratzer, dachte Thomasine, mußte ziemlich schlimm sein: Die Schlacht von Passchendaele war über ein Jahr her. Ihre eigenen Beine fühlten sich an, als würden sie einknicken oder vielleicht davonschweben und leichter tanzen, als sie je getanzt hatte. Sie kam nur langsam und stockend voran.
    Sie traten aus der Gasse und begannen, die Straße hinunterzugehen. »Ich wollte eigentlich zu einer U-Bahn«, sagte Thomasine.
    Â»Nein. Nicht die U-Bahn.« Daniel sah nach rechts und links. »Wir nehmen ein Taxi.«
    Â»Ich hab kein Geld. Jemand hat meine Tasche abgerissen.«
    Er sah an ihr hinab. »Was hast du denn allein hier gemacht, Thomasine?« Seine Stimme klang streng.
    Erschöpft lehnte sie sich an einen Parkzaun und schloß die Augen. Selbst ihre Augenlider schienen weh zu tun. »Ich war nicht allein, ich war mit einer Freundin unterwegs, aber ich hab sie in der Menge verloren. Ich lebe schon seit fast vier Jahren bei meiner Tante Tony in London. Tante Rose starb kurz vor Weihnachten 1914 an Lungenentzündung. Es ging schrecklich schnell, Daniel. Entsetzlich. Tante Hilly hat kurz darauf Drakesden verlassen, um Krankenschwester zu werden. Ich hab während des ganzen Krieges gearbeitet – sechs Monate, nachdem ich hier ankam, hatte ich meinen ersten Auftritt als Tänzerin.«
    Im fahlen Licht der Gaslampe bemerkte sie sein Stirnrunzeln. »Ich bin nie mehr nach Drakesden zurückgekommen, Daniel. Seit 1914 nicht mehr. Nicht seit die Blythes …«, ihre Stimme brach ab.
    Ich würde Ihnen vorschlagen, sich eine anständige Arbeit zu suchen, falls Sie dazu in der Lage sind, und zwar so weit wie möglich von Drakesden entfernt . Nun, sie hatte einen Beruf, und obwohl sie nicht sicher war, ob Lady Blythe Tanzen als anständige Arbeit ansähe, erinnerte sie sich voller Trotz an die Demütigung jenes schrecklichen Morgens und wußte, daß sie etwas aus sich gemacht hatte.
    Â»Mein Gott!« Daniel nahm ihren Arm und ging den Gehsteig entlang. Lange Zeit sagte er nichts. Halb schlafend stützte sich Thomasine auf ihn. Der Lärm und das Geschrei der Straße kamen ihr jetzt wie ein Traum vor: Sie fühlte sich seltsam abgetrennt davon, als wäre sie eigentlich gar nicht da. Sie schien sehr lange gegangen zu sein, als Daniel flüsterte: »Der Teufel soll sie holen, die ganze Brut der Blythes.«
    In der Dunkelheit sah sie den Zeitungsausschnitt vor sich, als läge er vor ihr. »Das hat er bereits«, antwortete sie. »Gerald Blythe ist 1914 in der Schlacht von Mons gefallen.«
    Daniel sagte eine Weile nichts. Dann fragte er: »Und Nicholas?«
    Thomasine schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er bekam einen Orden. Wahrscheinlich hat er überlebt.«
    Erneut begann sie zu husten, ihre Brust schmerzte bei jedem Atemzug. Sie hörte Daniel – jetzt mit freundlicherer Stimme – sagen: »Du siehst völlig fertig aus. Setz dich einen Moment«, und sie lehnte sich an einen Türpfosten und schloß die Augen.
    Thomasine hörte, wie sich Daniels ungleiche Schritte entfernten. Einen Moment lang befürchtete sie, er habe sie verlassen, aber dann schwanden ihr die Sinne, und sie schwebte an einen Ort, an dem es warm und still war.
    Eine Hand, die sie an der Schulter rüttelte, und eine Stimme, die ihren Namen sagte, weckten sie wieder auf. »Wach auf, Thomasine. Ich hab einen Wagen gefunden. Kannst du gehen?«
    Sie zwang sich zu gehen, weil sie nicht zulassen wollte, daß der arme hinkende Daniel sie trug. Sie glaubte, stundenlang geschlafen zu haben, aber der Himmel war immer noch dunkel, und die Geräusche der Festlichkeiten waren von fern noch immer zu

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