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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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deine Füße sehen, Thomasine. Streck die Zehen.«
    Mitten auf der Liverpool Street Station, umgeben von Soldaten, die in ihre Kasernen zurückkehrten, schürzte Thomasine den Rock bis zu den Waden und streckte den Fuß aus.
    Â»Dreh dein Fußgelenk«, rief Antonia. »Ja, Liebes! Du bist ein kluges Mädchen, du hast nichts vergessen. Aber was sind das für häßliche Stiefel. Hilda hatte noch nie Geschmack.«
    Antonia ergriff Thomasines Hand und zog sie durch die Menge. »Ich habe um vier Uhr Unterricht, aber wenn wir uns beeilen, können wir noch eine Tasse Tee trinken.«
    Eine Stunde später saß Thomasine im vorderen Salon von Tante Antonias Haus in Teddington. Als sie sich in dem Raum umsah, kamen ihr alle Gegenstände noch von ihrem Besuch im letzten Jahr vertraut vor. Niemand hatte ein Haus wie Tante Tony. Alle Verzierungen, jedes Buch und jedes Gemälde hatten mit Ballett zu tun. Und niemand sah aus wie Antonia. Obwohl sie nicht mehr als einen Meter fünfzig maß, wirkte sie groß, schlank und elegant. Ihre Kleider, die sie selbst anfertigte, waren erlesen.
    Antonia stellte ihre Teetasse ab. »Jetzt muß ich mich aber beeilen, sonst komme ich zu spät zu meinem Unterricht. Du bleibst hier, Liebes, und ruhst dich aus. Zugreisen sind immer so anstrengend.«
    Antonia sah in den Spiegel und rückte ihre Hutfedern zurecht. Sie ergriff Thomasines Hand und küßte sie auf die Wange.
    Â»Am Montag nachmittag beginnst du mit dem Unterricht. Am Montag morgen machen wir einen Stadtbummel und suchen ein paar Stoffe aus. Ich finde, du könntest ein paar neue Sachen brauchen.«
    Dann war sie fort. Thomasine sah ihr hinterher, wie sie schnell und zielstrebig durch den Vorgarten und dann die Straße hinunterging. Sie lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. Auf der anderen Straßenseite sah sie die Reihe ähnlicher Häuser, die sich nur durch die Farbe ihrer Haustüren, die Rosen oder den wilden Wein unterschieden, der über die Wände rankte. Eine Katze streckte sich behaglich auf einer der Mauern aus, und auf einer roten Litfaßsäule klebte ein Plakat. Thomasine konnte nur die Hälfte des Plakats sehen, aber sie kannte es schon. »Dein König und dein Land brauchen dich«, stand darauf. »Melde dich zu den Waffen.«
    Die Häuser kamen ihr unendlich hoch und dicht zusammengedrängt vor und zeichneten sich in vielfacher Wiederholung vor dem grauen Himmel ab. Die Bäume wirkten verkrüppelt und vom Rauch und Dunst vieler Winter geschwärzt. Mit Wehmut dachte sie an Drakesden. An Daniel und Nicholas, die im Gras lagen und sagten: »Es wird ein Heidenspaß.« Sie schob die Erinnerungen beiseite, gemeinsam mit der noch quälenderen Erinnerung an den Abschied von Hilda und Rose. Dann schloß sie die Augen und lauschte den Geräuschen der Stadt.
    Im September lud Daniel Karren voller Fallobst aus dem Obstgarten ab, als Nicholas zum erstenmal seit Wochen wieder mit ihm sprach.
    Lady Blythes jüngerer Sohn trug Tenniskleidung. Auf den Schubkarren deutend, sagte er: »Du kannst später damit weitermachen, Gillory. Ich brauche jemand, der mir die Tennisbälle einsammelt. Ich muß meinen Aufschlag üben.«
    Daniel folgte Nicholas auf den Tennisplatz. Nicholas’ makellos weiße Kleider blendeten im Sonnenlicht.
    Der Tennisplatz von Drakesden war ein Rasenplatz, auf drei Seiten von Wiesen und auf einer von der sogenannten Wildnis, einem absichtlich wild belassenen Stück Garten, umgeben. »Viel zu heiß zum Herumrennen«, fluchte Nicholas und begann mit den Aufschlägen.
    Daniel hatte etwa ein Dutzend Bälle aufgehoben, als er bemerkte, daß Nicholas sie absichtlich weit wegschoß. Drei seiner Aufschläge gingen hoch übers Netz, und die Bälle landeten im Unterholz hinter dem Platz. Daniel mußte zwischen Nesseln und Zweigen herumkriechen, um die Bälle zu finden.
    Nach etwa fünf Minuten war ihm klar, daß er dies nicht mit sich machen ließe. Er wollte nicht wie ein Blöder herumrennen und zulassen, daß sich Nicholas an seiner Demütigung weidete. Nicht daß er die Beherrschung verloren hätte: Er war sich vielmehr einer himmelschreienden Ungerechtigkeit bewußt, einem Gefühl der Ohnmacht, das er nicht ertragen konnte. Zudem hatte er nichts mehr zu verlieren.
    Der Tennisball flog in die Luft, traf auf Nicholas’ Schläger und landete

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