Die geheimen Jahre
verloren. Sie lehnte sich gegen die Wand eines Ladens und konnte nicht aufhören zu husten. Am liebsten hätte sie sich auf den Gehsteig gelegt, um zu schlafen und nie wieder aufzustehen, doch der Lärm, der Gestank und das Gedränge waren noch immer unerträglich. Sie ermahnte sich eindringlich, daà sie hier nicht schlafen konnte. Trotz des kalten Regens war ihr heiÃ, und sie knöpfte ihren Mantel auf und löste ihr Halstuch. Dann holte sie tief Luft und zwang sich, vom Trafalgar Square weg die St. Martinâs Lane hinunterzugehen.
Sie kam nur langsam und stockend voran. Mehrmals wurde sie vom Druck der Menge gegen die Geländer gepreÃt oder in die Mitte der StraÃe geschoben. Taumelnd stolperte sie über Paare, die eng umschlungen auf Haustreppen saÃen, oder prallte auf die, die sich umarmt hielten, ohne zu bemerken, was um sie herum geschah. Obwohl sie das Zentrum von London gut kannte, kamen ihr die StraÃen fremd vor, wie Bilder aus einem Alptraum. Sie muÃte ein Taxi finden, dachte sie. Doch was würde das kosten, bis nach Teddington hinaus? Nein â die U-Bahn zum Knotenpunkt der Linien wäre besser. Sie war sich sicher, daà es gleich in der Nähe eine U-Bahn-Station gab. Vielleicht würde heute niemand bemerken, daà sie keinen Fahrschein hatte.
Der Knall von Schüssen lieà sie zusammenschrecken, und sie fuhr herum. Ein Soldat balancierte unsicher auf dem Geländer eines Hauses und feuerte aus seinem Revolver in die Nacht. Nicht weit entfernt von ihm lag jemand zusammengerollt auf dem Gehsteig, dem zwei Männer immer wieder in den Bauch traten. Thomasine duckte sich, um den Geschossen auszuweichen, die durch die Luft schwirrten: einem Polizeihelm, Bierflaschen, Zwiebeln und Rosenkohl aus einem Gemüseladen in der Nähe. Eine der Rosenkohlknospen traf sie mitten auf die Stirn, so daà sie stolperte, hinfiel und sich die Knie aufschürfte. Ihre Strümpfe waren zerrissen und schmutzig geworden, ihr Rock war durchweicht.
Als sie aufstand, stellte sie fest, daà sie sich an der Mündung einer Gasse befand. Sie tat ein paar Schritte vorwärts und sah, daà die Gasse auÃer den Abfalltonnen und dem Unrat, der sich im Rinnstein häufte, leer war. Ohne die Freudenfeuer und Fackeln war es dunkel und kühl hier. Die hohen Häusermauern schienen sich über ihr zu schlieÃen und das Geschrei der Menge abzuhalten. Die plötzliche Stille war fast unheimlich. Thomasine schwirrte der Kopf, und in ihrem Innern spulten sich immer wieder die gleichen Worte eines Lieds ab: »Goodbye-ee, goodbye-ee, Wipe the tear, dear baby, from your eye-ee.«
Thomasine fühlte sich hundeelend. Sie lehnte sich an eine Wand, schloà die Augen und zog den Mantel um sich. Ihr war kalt. Sie fröstelte, und ihre Zähne klapperten.
Doch plötzlich merkte sie, daà sie nicht allein war. Sie hörte Schritte auf den Pflastersteinen und ein leises Husten, die die Stille unterbrachen. Ein Mann in einem Offiziersmantel und Mütze stand in der Dunkelheit und starrte sie so eindringlich an, daà ihr mulmig wurde.
»Alles in Ordnung?«
Seine Stimme klang seltsam vertraut, aber ihr Kopf schmerzte zu sehr, um den Nebel der Erinnerung zu durchdringen und sie zu identifizieren. Die Angst jedoch blieb, und sie begann zu zittern.
»Thomasine? Gehtâs dir gut?«
Als er ihren Namen sagte, zog sie den Mantel enger um sich und versuchte in der Dunkelheit seine Züge auszumachen. Seine Augen waren in der Nacht nicht zu erkennen, aber sie wuÃte, daà sie ein ungewöhnliches Gemisch aus Gold, Grün und HaselnuÃbraun waren.
»Daniel«, flüsterte sie. »Daniel Gillory.«
Sie lieà sich aufhelfen. »Du hast eine Beule auf der Stirn«, sagte er.
»Rosenkohl«, sagte Thomasine. »Mich hat eine Rosenkohlknospe getroffen.«
Sie kicherte, dann ging das Kichern in Husten über. Als sie schlieÃlich zu husten aufhörte, legte Daniel prüfend die Hand auf ihre Stirn.
»Du bist erkältet, du dummes Ding«, sagte er liebevoll. »Du muÃt dich schrecklich fühlen.«
Thomasine brach in Tränen aus. Sie hätte niemandem erklären können, warum sie weinte: weil sie sich krank fühlte, weil sie ihre Geldbörse verloren hatte, weil der Krieg vorbei war, wegen der ganzen sinnlosen Vergeudung. Wegen der plötzlichen Einsicht, was die vergangenen vier Jahre ihrem Leben,
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