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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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verloren. Sie lehnte sich gegen die Wand eines Ladens und konnte nicht aufhören zu husten. Am liebsten hätte sie sich auf den Gehsteig gelegt, um zu schlafen und nie wieder aufzustehen, doch der Lärm, der Gestank und das Gedränge waren noch immer unerträglich. Sie ermahnte sich eindringlich, daß sie hier nicht schlafen konnte. Trotz des kalten Regens war ihr heiß, und sie knöpfte ihren Mantel auf und löste ihr Halstuch. Dann holte sie tief Luft und zwang sich, vom Trafalgar Square weg die St. Martin’s Lane hinunterzugehen.
    Sie kam nur langsam und stockend voran. Mehrmals wurde sie vom Druck der Menge gegen die Geländer gepreßt oder in die Mitte der Straße geschoben. Taumelnd stolperte sie über Paare, die eng umschlungen auf Haustreppen saßen, oder prallte auf die, die sich umarmt hielten, ohne zu bemerken, was um sie herum geschah. Obwohl sie das Zentrum von London gut kannte, kamen ihr die Straßen fremd vor, wie Bilder aus einem Alptraum. Sie mußte ein Taxi finden, dachte sie. Doch was würde das kosten, bis nach Teddington hinaus? Nein – die U-Bahn zum Knotenpunkt der Linien wäre besser. Sie war sich sicher, daß es gleich in der Nähe eine U-Bahn-Station gab. Vielleicht würde heute niemand bemerken, daß sie keinen Fahrschein hatte.
    Der Knall von Schüssen ließ sie zusammenschrecken, und sie fuhr herum. Ein Soldat balancierte unsicher auf dem Geländer eines Hauses und feuerte aus seinem Revolver in die Nacht. Nicht weit entfernt von ihm lag jemand zusammengerollt auf dem Gehsteig, dem zwei Männer immer wieder in den Bauch traten. Thomasine duckte sich, um den Geschossen auszuweichen, die durch die Luft schwirrten: einem Polizeihelm, Bierflaschen, Zwiebeln und Rosenkohl aus einem Gemüseladen in der Nähe. Eine der Rosenkohlknospen traf sie mitten auf die Stirn, so daß sie stolperte, hinfiel und sich die Knie aufschürfte. Ihre Strümpfe waren zerrissen und schmutzig geworden, ihr Rock war durchweicht.
    Als sie aufstand, stellte sie fest, daß sie sich an der Mündung einer Gasse befand. Sie tat ein paar Schritte vorwärts und sah, daß die Gasse außer den Abfalltonnen und dem Unrat, der sich im Rinnstein häufte, leer war. Ohne die Freudenfeuer und Fackeln war es dunkel und kühl hier. Die hohen Häusermauern schienen sich über ihr zu schließen und das Geschrei der Menge abzuhalten. Die plötzliche Stille war fast unheimlich. Thomasine schwirrte der Kopf, und in ihrem Innern spulten sich immer wieder die gleichen Worte eines Lieds ab: »Goodbye-ee, goodbye-ee, Wipe the tear, dear baby, from your eye-ee.«
    Thomasine fühlte sich hundeelend. Sie lehnte sich an eine Wand, schloß die Augen und zog den Mantel um sich. Ihr war kalt. Sie fröstelte, und ihre Zähne klapperten.
    Doch plötzlich merkte sie, daß sie nicht allein war. Sie hörte Schritte auf den Pflastersteinen und ein leises Husten, die die Stille unterbrachen. Ein Mann in einem Offiziersmantel und Mütze stand in der Dunkelheit und starrte sie so eindringlich an, daß ihr mulmig wurde.
    Â»Alles in Ordnung?«
    Seine Stimme klang seltsam vertraut, aber ihr Kopf schmerzte zu sehr, um den Nebel der Erinnerung zu durchdringen und sie zu identifizieren. Die Angst jedoch blieb, und sie begann zu zittern.
    Â»Thomasine? Geht’s dir gut?«
    Als er ihren Namen sagte, zog sie den Mantel enger um sich und versuchte in der Dunkelheit seine Züge auszumachen. Seine Augen waren in der Nacht nicht zu erkennen, aber sie wußte, daß sie ein ungewöhnliches Gemisch aus Gold, Grün und Haselnußbraun waren.
    Â»Daniel«, flüsterte sie. »Daniel Gillory.«
    Sie ließ sich aufhelfen. »Du hast eine Beule auf der Stirn«, sagte er.
    Â»Rosenkohl«, sagte Thomasine. »Mich hat eine Rosenkohlknospe getroffen.«
    Sie kicherte, dann ging das Kichern in Husten über. Als sie schließlich zu husten aufhörte, legte Daniel prüfend die Hand auf ihre Stirn.
    Â»Du bist erkältet, du dummes Ding«, sagte er liebevoll. »Du mußt dich schrecklich fühlen.«
    Thomasine brach in Tränen aus. Sie hätte niemandem erklären können, warum sie weinte: weil sie sich krank fühlte, weil sie ihre Geldbörse verloren hatte, weil der Krieg vorbei war, wegen der ganzen sinnlosen Vergeudung. Wegen der plötzlichen Einsicht, was die vergangenen vier Jahre ihrem Leben,

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