Die geheimen Jahre
auÃerhalb des Spielfelds. Daniel stand ruhig mit verschränkten Armen da und wartete.
Nicholas schlug noch ein paarmal auf, bevor er bemerkte, was los war.
»Heb die Bälle auf, Gillory«, rief er.
»Heb deine beschissenen Bälle selber auf«, antwortete Daniel.
Der Schläger hob sich wieder und wurde gesenkt. »Was hast du gesagt?«
»Ich hab gesagt, daà du deine beschissenen Bälle selber aufheben kannst.«
»Also, du kleines Dreckstück â¦Â« Nicholas rannte auf ihn zu. »Du bist also nicht nur ein Dieb, sondern auch noch aufmüpfig, Gillory? Du hast die Brosche geklaut, nicht wahr? Ich weiÃ, daà du es warst â¦Â«
Nicholas hatte seine Fäuste erhoben. Bevor er ihn schlug, hatte Daniel gerade noch Gelegenheit, die Intensität der Wut und des Leids in Nicholasâ Augen zu sehen. Dann traf seine Faust Nicholasâ Kinn.
Nicholas war zwei Jahre älter, aber Daniel, dessen Muskeln in der Schmiede gestählt worden waren, war stärker. Und sie kämpften nach verschiedenen Regeln oder vielmehr: Nicholas hatte Regeln und Daniel keine. Eine andere Erziehung, dachte Daniel in seinem HaÃ, als er ein Büschel von Nicholas Blythes schwarzen Haaren packte und seinen Kopf auf eine der weiÃen Linien schlug, die die Ränder des Spielfelds markierten. SchlieÃlich lag Nicholas zusammengekrümmt und nach Atem ringend neben dem Netz, seine weiÃen Kleider waren zerrissen und schmutzig. Daniels Atem brannte in seiner Kehle, und er schmeckte Blut im Mund. Er wuÃte, daà sein Racheakt nichts ändern würde, aber wenigstens fühlte er sich jetzt besser.
Wortlos drehte er sich um und ging. Als er ins Haus der Schmiede zurückkehrte, stellte er zu seiner Erleichterung fest, daà niemand daheim war. Er packte seine Habseligkeiten zusammen und schrieb seiner Mutter eine Nachricht, die er auf dem Küchentisch zurücklieÃ.
Er ging den ganzen Tag hindurch. Als er sich schlieÃlich umdrehte, war Drakesden nicht mehr zu sehen. Aufgrund der Erdkrümmung war es verschwunden. Die StraÃe, die er entlangwanderte, war nicht mehr so vollkommen eben wie in den Fens, sondern begann bereits anzusteigen.
Im hinteren Teil des Unterrichtsraums der Tanzschule Kleine Schneeglöckchen bemühte sich Thomasine, die zwanzig anderen Mädchen vor ihr nachzuahmen.
»Port de bras«, rief Antonia, vor der Klasse stehend. »Eure Hände, Mädchen, denkt an eure Hände! Deine Finger, Thomasine! Und lächeln! «
Zwanzig gleichgekleidete Mädchen hoben die Arme und vollführten weite Halbkreise in der Luft. Im hinteren Teil des Unterrichtsraums ahmten Thomasines Arme, ein biÃchen verspätet, die Bewegung nach.
Sie müÃte sehr hart arbeiten, um mit den anderen Mädchen gleichzuziehen. Antonia erklärte ihr, daà sie schon in einem Jahr bei einem Theater vortanzen könnte, wenn sie gut genug sei. Sie hatte vor, gut genug zu sein. Sie wollte die Beste sein.
Antonias energische Stimme übertönte den fernen StraÃenlärm. »Besser, Thomasine, besser. Jetzt die zweite Position, Mädchen. Und lächeln!«
Teil II
1918 â 1920
Stundâ um Stundâ streifen sie übers warme Feld
Und das entfernte Tal dahinter,
wo Butterblumen mit Gold ihre Stiefel bestäubten â¦
WILFRIED OWEN , Spring Offensive
2
ZWISCHEN AUGUST 1914 und November 1918 brach die Welt in Stücke. Im Frühling 1915, mit der Versenkung der Lusitania und dem ersten Abwurf von Bomben auf London, wuÃten alle, daà dies eine andere Art von Krieg war. Niemand war sicher.
Auch an der Front hatte der Krieg sich gewandelt. Panzer und Flugzeuge traten an die Stelle der rotberockten Kavallerie. Senfgas zerfraà die Lungen der Soldaten, so daà sie auf trockenem Land gleichsam ertranken. AuÃerhalb der Schlachtfelder versuchte man durch Propaganda die wahre Situation des Krieges vor der Bevölkerung in der Heimat zu vertuschen und antideutsche Stimmung zu schüren. 1916, mit der Einführung der Zwangsverpflichtung, wurden Frauen auf Farmen und in Fabriken geschickt, um die an der Front befindlichen Männer zu ersetzen. In den Schlachten von Ypres, Arras, an der Somme und Passchendaele starben Hunderttausende junger Männer bei dem Versuch, ein paar Meter schlammigen Bodens zu erobern. Die Verluste an jungen, vor allem an den gehobenen Privatschulen rekrutierten Offizieren waren
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