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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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ihre hochgezogenen schmalen Schultern und die Strähnen ihres rotgoldenen Haars unter dem Hutrand, die der Wind aufwehte. Er wollte nicht glauben, daß dies das Ende sein sollte, daß er sie durch seine Dummheit, seinen Zorn und seine Rachegelüste verloren hatte.
    Er rief: »Thomasine. Geh nicht weg! Ich liebe dich!«
    Einen Moment lang hielt sie inne und drehte sich kurz zu ihm um.
    Â»Wirklich, Daniel? Tatsächlich? Wie auch immer. Es ist vorbei. Ich möchte dich nicht mehr sehen.«
    Er blickte ihr nach und machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Statt dessen ging er in seine Wohnung und zu Lally zurück.
    Â»Sie ist fort«, sagte er verständnislos.
    Er bemerkte die unverstellte Freude in ihren Augen – die Schadenfreude und den Triumph in Lallys Gesichtsausdruck – und platzte ohne Rücksicht auf ihren angegriffen Gesundheitszustand brutal heraus: »Nicholas ist tot. Er ist gestern abend bei einem Autounfall umgekommen.«
    Sie blickte ihn mit großen runden Augen an. Dann begann sie zu husten. Mit Entsetzen bemerkte Daniel, wie Blut aus Lallys Mund über die Vorderseite des geliehenen Hemds floß.
    Zehn Tage später fand die Beerdigung statt. Thomasine kam es vor, als hätte sie zu oft in der kleinen Kirche von Drakesden gestanden, zu oft die Worte des Totengottesdienstes hören müssen. Für Tante Rose, für Sir William Blythe, für Fay Gillory und jetzt für Nicholas.
    Der Tag war kalt und grau. Tiefe Wolken hingen über den Feldern und Deichen. Als der Sarg ins Grab gesenkt wurde, konnte sie nicht hinsehen. Sie rückte ein wenig von der Trauergemeinde ab und sah über die verstreut liegenden Häuser des Dorfes zum Deich hinüber, auf den langen, niedrigen Wall, der Erde und Himmel trennte. Wenn sie sich jetzt an Nicholas erinnerte, dachte sie nicht an den kranken Mann, den sie geheiratet hatte, auch nicht an den eifersüchtigen, zwanghaften Ehemann, von dem sie sich getrennt hatte, sondern an den Nicholas von 1914, den hübschen dunkelhaarigen Jungen, der so gern gefallen wollte. An den Nicholas, der mit ihr und Daniel über die Wege geritten war, der sie durch die gewundenen Pfade des Labyrinths geführt hatte, der ihr die herrlichen Schätze von Drakesden Abbey gezeigt und mit ihr und Daniel im Gras zwischen den Rosen des ummauerten Gartens gelacht hatte. Plötzlich hob Thomasine den Kopf und sah auf die Trauernden am Grab zurück. Lally war unter den verschleierten Frauen nicht zu entdecken.
    Dann merkte sie, daß alles vorbei war. Die Trauergäste standen in kleinen Gruppen zusammen. Eine der verschleierten Frauen kam auf sie zu, es war Marjorie Blythe.
    Â»Wir nehmen einen kleinen Imbiß im Haus ein«, sagte Marjorie. »Nichts Besonderes. Hättest du Lust, dich uns anzuschließen?«
    Marjorie hatte die gröberen Züge ihres Vaters geerbt und das helle Haar ihrer Mutter. Lady Blythes zarter Körperbau war nur auf ihre beiden jüngeren Kinder übergegangen.
    Â»Das ist sehr freundlich von dir, Marjorie, aber ich glaube nicht. Ich möchte deiner Familie nur mein Beileid aussprechen.« Plötzlich fügte sie hinzu: »Wo ist Lally?«
    Marjorie runzelte die Stirn. »Lally ist in der Klinik.«
    Â»In der Klinik? «
    Â»Nun, eigentlich im Sanatorium. Sie hat Tuberkulose.«
    Plötzlich sah Thomasine Lally so vor sich, wie sie sie bei ihrer letzten Begegnung gesehen hatte. In Daniels Hemd, mit wirrem Haar und schlaftrunkenen Augen. Ihre gerötete Haut, ihre spindeldürren Arme und Beine.
    Â»Das wußte ich nicht.«
    Â»Keiner von uns wußte das.« Einen Moment lang verschwand das steife konventionelle Verhalten ihrer Klasse. »Manchmal glaube ich, daß keiner von uns den anderen besonders gut gekannt hat«, sagte sie mit bedrückter Miene. »Es muß ihr seit Jahren schlechtgegangen sein – vielleicht hat sie sich schon in der Schule angesteckt. Wie auch immer, am Tag nach Nickys Unfall wurde sie sehr krank. Der Schock, wie der Arzt meinte.«
    Marjorie verabschiedete sich und ging. Die Trauergemeinde hatte sich inzwischen aufgelöst, die Leute liefen ins Dorf zurück oder folgten dem Weg zum Friedhofstor, wo die Autos warteten. Thomasine wechselte ein paar Worte mit dem Pfarrer und einigen Dorfbewohnern. Sie wußte, daß ihre Stellung jetzt noch zwiespältiger war als vorher: Sie war weder Witwe noch Ehefrau, noch Geschiedene. Neugierige

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