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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Augen beobachteten sie heimlich, Stimmen flüsterten hinter vorgehaltenen Händen. Marjories Geste – die sich sicherlich nur ihrem eigenem Antrieb verdankte – war großzügig gewesen, aber vor allem auf Drakesden Abbey wäre sich Thomasine unerwünscht und wie eine Ausgestoßene vorgekommen. Sie würde sich dieser Art von Prüfung nicht mehr aussetzen, sich nicht mehr von anderen verurteilen lassen.
    Sie sah auf die Straße hinaus. Vor drei Jahren hatte sie Drakesden verlassen, und schon auf der Herfahrt vom Gasthaus in Ely war ihr aufgefallen, wie sehr sich inzwischen alles verändert hatte. Sie war mit dem Bus gekommen. Der Omnibus fuhr über ein halbes Dutzend Dörfer, einschließlich Drakesden, bevor er zum Bahnhof von Ely zurückkehrte. Man mußte nicht mehr auf schlammigen Pfaden über die Felder marschieren und auf den rutschigen Brücken über den Deichen sein Leben riskieren. Beim Blick aus dem Busfenster hatte sie eine Werkstatt gesehen, die am Dorfrand nahe der Stelle, wo sie früher Schlittschuh gelaufen waren, erbaut worden war. Es war ein schäbiger Bau aus gelben Ziegeln und rostigem Blech, aber zwei Autos standen im Hof, und es gab zwei glänzende Zapfsäulen.
    Auch das Dorf selbst hatte sich verändert. Neben dem Krämerladen hatte tatsächlich eine Teestube eröffnet. Karierte Vorhänge hingen an den Fenstern, und an der Tür klebte ein Schild, auf dem Eis und Kuchen angeboten wurden. Mr. Fanshawe hatte ihr erklärt, daß im Sommer Ausflugsbusse aus den Städten kamen, die häufig in Drakesden haltmachten. Durstige Städter konnten nun in Mrs. Hayhoes Lokal Tee oder Limonade trinken. Und entlang der Straße gab es einige Läden, die Wintergemüse, hausgemachte Marmeladen und Chutneys an die Autofahrer verkauften. Die Maschine, die für Nicholas Tod verantwortlich war, war inzwischen fast überall gegenwärtig. Thomasine wußte nicht, ob die Veränderungen zum Guten oder zum Schlechten waren.
    Sie steckte ihr Gebetbuch in ihre Handtasche und ging zum Friedhofstor. Als sie durch den alten, moosbewachsenen Torbogen sah, stellte sie fest, daß die Straße nicht verlassen war, wie sie angenommen hatte. Ein Bentley parkte an der Straßenbiegung.
    Um zur Bushaltestelle zu kommen, mußte sie an dem Bentley vorbeigehen. Als sie den Wagen erreicht hatte, stellte sie fest, daß ihr der Fahrer zwar unbekannt war, doch im Fond saß Lady Blythe. Trotz des zurückgeschlagenen Schleiers hätte sie das Gesicht kaum wiedererkannt. Es war zerstört, entstellt, ohne jede Spur von Jugend und einstiger Schönheit. Mit einer fast unmerklichen Bewegung drehte sie den Kopf, und einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Thomasine erkannte vollkommene Niedergeschlagenheit in den blaßblauen Augen, in denen jeglicher Lebensmut erloschen war. Zwei Söhne überlebt zu haben … dachte sie. Gibt es ein schlimmeres Schicksal für eine Mutter? Thomasine senkte den Kopf und ging weiter.
    Morgen würde sie Sir Alfred Duke anrufen und den Prozeß in Gang setzen lassen, mit dem sie ihren Sohn zurückbekäme. Sie wußte, daß sie dieses Mal gewinnen würde. Sie würde nicht nachgeben, bis sie das Sorgerecht für William wiederhatte. Flüchtig fragte sie sich, ob die gebrochene Frau, die sie im Fond des Bentleys gesehen hatte, in der Lage wäre, noch zu kämpfen, oder ob auch die Besitzgier in diesem unnachgiebigen Herzen erloschen war.
    Goldene Sonnenstrahlen drangen zwischen den Wolken hindurch und tauchten das Dorf und die Felder in strahlende Farben: korallenrot, gelbbraun, orange und rosa. Der Himmel war eine große Farbpalette, die das Land prächtig schmückte, die Vergänglichkeit von Dynastien und den Beginn eines anderen Zeitalters ankündigte.
    Am Abend begann sie, Nicholas’ Sachen durchzusehen. Marjorie hatte sich erboten, das Dienstmädchen hatte sich erboten, aber sie hatte beide Angebote abgelehnt. Diesen letzten Dienst konnte nur sie ihrem Lieblingssohn erweisen.
    Aber jeder einzelne Gegenstand quälte sie. Dabei hatte sie sich in dem Glauben an die Aufgabe gemacht, selbst in diesen alptraumhaften Tagen nichts von ihrer Beherrschung und ihrer Fähigkeit zu organisieren verloren zu haben. Doch jetzt, angesichts der Kleiderschränke und Kommoden, des Schreibtischs, des Betts und der Truhen, all der toten Gegenstände, die so lebhafte Erinnerungen

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