Die geheimen Jahre
Augen beobachteten sie heimlich, Stimmen flüsterten hinter vorgehaltenen Händen. Marjories Geste â die sich sicherlich nur ihrem eigenem Antrieb verdankte â war groÃzügig gewesen, aber vor allem auf Drakesden Abbey wäre sich Thomasine unerwünscht und wie eine AusgestoÃene vorgekommen. Sie würde sich dieser Art von Prüfung nicht mehr aussetzen, sich nicht mehr von anderen verurteilen lassen.
Sie sah auf die StraÃe hinaus. Vor drei Jahren hatte sie Drakesden verlassen, und schon auf der Herfahrt vom Gasthaus in Ely war ihr aufgefallen, wie sehr sich inzwischen alles verändert hatte. Sie war mit dem Bus gekommen. Der Omnibus fuhr über ein halbes Dutzend Dörfer, einschlieÃlich Drakesden, bevor er zum Bahnhof von Ely zurückkehrte. Man muÃte nicht mehr auf schlammigen Pfaden über die Felder marschieren und auf den rutschigen Brücken über den Deichen sein Leben riskieren. Beim Blick aus dem Busfenster hatte sie eine Werkstatt gesehen, die am Dorfrand nahe der Stelle, wo sie früher Schlittschuh gelaufen waren, erbaut worden war. Es war ein schäbiger Bau aus gelben Ziegeln und rostigem Blech, aber zwei Autos standen im Hof, und es gab zwei glänzende Zapfsäulen.
Auch das Dorf selbst hatte sich verändert. Neben dem Krämerladen hatte tatsächlich eine Teestube eröffnet. Karierte Vorhänge hingen an den Fenstern, und an der Tür klebte ein Schild, auf dem Eis und Kuchen angeboten wurden. Mr. Fanshawe hatte ihr erklärt, daà im Sommer Ausflugsbusse aus den Städten kamen, die häufig in Drakesden haltmachten. Durstige Städter konnten nun in Mrs. Hayhoes Lokal Tee oder Limonade trinken. Und entlang der StraÃe gab es einige Läden, die Wintergemüse, hausgemachte Marmeladen und Chutneys an die Autofahrer verkauften. Die Maschine, die für Nicholas Tod verantwortlich war, war inzwischen fast überall gegenwärtig. Thomasine wuÃte nicht, ob die Veränderungen zum Guten oder zum Schlechten waren.
Sie steckte ihr Gebetbuch in ihre Handtasche und ging zum Friedhofstor. Als sie durch den alten, moosbewachsenen Torbogen sah, stellte sie fest, daà die StraÃe nicht verlassen war, wie sie angenommen hatte. Ein Bentley parkte an der StraÃenbiegung.
Um zur Bushaltestelle zu kommen, muÃte sie an dem Bentley vorbeigehen. Als sie den Wagen erreicht hatte, stellte sie fest, daà ihr der Fahrer zwar unbekannt war, doch im Fond saà Lady Blythe. Trotz des zurückgeschlagenen Schleiers hätte sie das Gesicht kaum wiedererkannt. Es war zerstört, entstellt, ohne jede Spur von Jugend und einstiger Schönheit. Mit einer fast unmerklichen Bewegung drehte sie den Kopf, und einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Thomasine erkannte vollkommene Niedergeschlagenheit in den blaÃblauen Augen, in denen jeglicher Lebensmut erloschen war. Zwei Söhne überlebt zu haben ⦠dachte sie. Gibt es ein schlimmeres Schicksal für eine Mutter? Thomasine senkte den Kopf und ging weiter.
Morgen würde sie Sir Alfred Duke anrufen und den Prozeà in Gang setzen lassen, mit dem sie ihren Sohn zurückbekäme. Sie wuÃte, daà sie dieses Mal gewinnen würde. Sie würde nicht nachgeben, bis sie das Sorgerecht für William wiederhatte. Flüchtig fragte sie sich, ob die gebrochene Frau, die sie im Fond des Bentleys gesehen hatte, in der Lage wäre, noch zu kämpfen, oder ob auch die Besitzgier in diesem unnachgiebigen Herzen erloschen war.
Goldene Sonnenstrahlen drangen zwischen den Wolken hindurch und tauchten das Dorf und die Felder in strahlende Farben: korallenrot, gelbbraun, orange und rosa. Der Himmel war eine groÃe Farbpalette, die das Land prächtig schmückte, die Vergänglichkeit von Dynastien und den Beginn eines anderen Zeitalters ankündigte.
Am Abend begann sie, Nicholasâ Sachen durchzusehen. Marjorie hatte sich erboten, das Dienstmädchen hatte sich erboten, aber sie hatte beide Angebote abgelehnt. Diesen letzten Dienst konnte nur sie ihrem Lieblingssohn erweisen.
Aber jeder einzelne Gegenstand quälte sie. Dabei hatte sie sich in dem Glauben an die Aufgabe gemacht, selbst in diesen alptraumhaften Tagen nichts von ihrer Beherrschung und ihrer Fähigkeit zu organisieren verloren zu haben. Doch jetzt, angesichts der Kleiderschränke und Kommoden, des Schreibtischs, des Betts und der Truhen, all der toten Gegenstände, die so lebhafte Erinnerungen
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