Die geheimen Jahre
Wen noch? Den Burschen bei der Party in Mayfair â sein Name fiel ihr nicht mehr ein â und Lallys Liebhaber in Frankreich. Und Belle, Julian, Boy und Ettie.
Doch während sie in der eisigen Morgenluft auf dem Gehsteig stand, war Thomasine nicht überzeugt, ob auch nur einer dieser Leute wirklich Lallys Freund gewesen war.
Ein Taxi bog um die Ecke, und Thomasine hob unwillkürlich die Hand. Es hielt an.
»Wohin, meine Liebe?«
Sie hatte keine Ahnung. Plötzlich wuÃte sie, daà es jemanden gab, der ihr helfen würde. Sie gab dem Fahrer Daniels Adresse, setzte sich zurück und schlug den Pelzkragen ihres Mantels hoch. Sie hatte ihre Handschuhe vergessen, und ihre Hände waren blau gefroren. Auf den kleinen Rasenstücken vor den Häusern lag Rauhreif, der Himmel war klar und wolkenlos. Nicholas ist tot, dachte sie. Nicholas, der mein Ehemann war, der Vater meines Kindes, ist tot. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie angesichts der Sinnlosigkeit des Ganzen. Voller Bitterkeit dachte sie, daà Nicholas nicht viel vom Leben gehabt hatte. Das wenige Glück, das er gefunden hatte, war illusorisch und vergänglich gewesen. Sie drückte die Handknöchel an die Augen.
Daniel würde ihr helfen. Daniel war gut, wenn es jemanden zu finden galt. Er hatte ihr damals, am Tag des Waffenstillstands, geholfen und sie in Camden Town gefunden, nachdem sie aus Antonias Haus geflohen war. Er war drei Jahre lang durch Europa und kreuz und quer durch England gereist. Daniel ging nie verloren. Er war die einzige Person, auf die sie sich an diesem schrecklichen Tag verlassen konnte. Er würde wissen, wie man Lally finden konnte.
Das Taxi hielt vor Daniels Wohnung an. Thomasine reichte dem Fahrer das Geld und blieb allein auf der stillen StraÃe zurück. Sie klingelte an der Eingangstür.
Daniel trug nur eine Hose, als er öffnete, und Thomasine wäre fast in den Gang der Wohnung gefallen. Ihre Hände hielten sich an ihm fest.
»O Daniel. Es ist etwas Schreckliches â¦Â«
Hinter ihm ertönte ein Geräusch, und die Schlafzimmertür ging auf. Eine wohlbekannte Stimme sagte: »Ist es nicht ein biÃchen früh für Besuch, Liebling?«
Thomasines Hände fielen von seinem Arm herab. Einen Augenblick lang starrte sie vollkommen verwirrt Lally an. Lally trug ein Männerhemd, ihr Haar war zerzaust, ihre Beine nackt. Sie lächelte. Thomasine wich einen Schritt zurück. Ihr Blick schoà schnell zwischen Daniel und Lally hin und her. Dann lief sie auf die StraÃe hinunter und den Gehsteig entlang.
Er griff sich eine Jacke von der Garderobe im Gang und rannte ihr nach. Lally rief ihm hinterher, aber er beachtete sie nicht. Gerade als Thomasine um die Ecke bog, holte er sie ein.
»Thomasine, um Himmels willen â¦Â«
Sie blieb nicht stehen, also packte er sie am Ellbogen und hielt sie fest. Als sie sich zu ihm umdrehte, sah er Tränen in ihren Augenwinkeln glitzern.
»Was willst du, Daniel?«
»Dir erklären. Es ist nicht, wie du denkst.« Verzweifelt stammelte er abgegriffene Sätze.
»Oh, das glaube ich schon. Wie sie gesagt hat, ein biÃchen früh für Besuche. Und sie hatte dein Hemd an, Daniel!«
»Hör doch bitte zu. Ich hab Lally gestern abend auf einer Party getroffen. Ich hatte zuviel getrunken, weil ich nach unserem Streit in schlechter Stimmung war. Um Himmels willen, Thomasine â es hat nichts zu bedeuten!«
»Für mich aber schon«, flüsterte sie.
Es stand eine schreckliche Trostlosigkeit in ihren Augen, ihr Gesicht war leichenblaÃ. Er erinnerte sich, daà sie gesagt hatte: »Es ist etwas Schreckliches â¦Â« Ungeduldig fragte er: »Was ist passiert, Thomasine? Sagâs mir!«
Sie lachte. Ein furchtbarer Laut, heiser, abgehackt und hysterisch. »Eigentlich hab ich nach Lally gesucht, Daniel. Wie praktisch, daà sie bei dir ist. Ich hab ihr was zu sagen.«
Sie begann, sich wieder in Bewegung zu setzen, sich von ihm loszureiÃen. Der Bahnhof von Kingâs Cross erhob sich hinter ihr und verdeckte die aufgehende Sonne.
»Aber jetzt kannst du es ihr ja sagen. Du kannst Lally Blythe sagen, daà ihr Bruder tot ist.«
Er wollte zu ihr gehen, sie umarmen, sie trösten, aber etwas in ihrer Miene hielt ihn zurück. »Nicholas ist tot? Wie das?«
»Ein Autounfall. Letzte Nacht.« Sie hatte sich von ihm abgewandt.
Als sie wegging, sah er auf
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