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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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konnte nicht sprechen, sondern Belle nur anstarren, wobei ihr unwichtige Kleinigkeiten auffielen: das kleine Loch in Belles metallgrauen Seidenstrümpfen, die Jettperle an der Spitze ihrer Hutnadel.
    Â»Es ist letzte Nacht passiert. Kurz nach Mitternacht, nimmt man an.« Belle suchte in ihrer Tasche nach einem weiteren Taschentuch. »Ein Farmer fand den Wagen in einem Graben. Die Polizei benachrichtigte Tante Gwendoline, und sie rief mich aus dem Krankenhaus an. Sie mußte … du weißt schon.«
    Lady Blythe mußte die Leiche ihres Sohnes identifizieren. Thomasine verstand nicht, warum ihre Augen trocken blieben, während ein ständiger Tränenfluß über Belles gepuderte Wangen rann.
    Â»Es ist nur«, fügte Belle aufgewühlt hinzu, »daß ich Lally nicht finden kann, weißt du. Tante Gwendoline hat mich gebeten, ihr und Marjorie die Nachricht zu überbringen. Aber Lally ist letzte Nacht nicht heimgekommen. Das geschieht ziemlich oft, aber das konnte ich Tante Gwendoline natürlich nicht sagen. Also erklärte ich ihr, daß sie bei einer Freundin sei, die kein Telefon hat. Und ich dachte mir, daß du vielleicht … ich mußte dir ohnehin Bescheid geben, da du und Nicky …« Ihre Stimme zitterte stark, als sie den Namen ihres Cousins aussprach und ihr Taschentuch zu einer feuchten Schnur zwirbelte.
    Es wirkte alles so unwirklich. Fast so, als schliefe sie und hätte einen besonders lebhaften Alptraum. Gleich würde sie aufwachen und wissen, daß Nicholas noch immer in Drakesden und nicht im Alter von neunundzwanzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Thomasine grub die Fingernägel in die Handfläche, um wenigstens irgend etwas zu empfinden, doch sie spürte bloß die losen Federn in dem Sofa und die eisige Kälte in dem kleinen, ungeheizten Salon.
    Und dennoch klangen Belles Worte schrecklich nach der Wahrheit. Selbst jetzt sah Thomasine Nicholas’ Hände vor sich, die mit weiß hervortretenden Knöcheln das Lenkrad umklammerten, und seine Augen, die sich starr auf die Straße vor ihm richteten.
    Endlich brachte sie ein Wort heraus. »Du möchtest, daß ich Lally finde und ihr sage, was passiert ist?«
    Belle nickte. »Ich muß mit dem Zug zu Marjorie runterfahren – es ist wirklich absolut lächerlich, daß sie kein Telefon hat. Es wäre doch unpassend, nur ein Telegramm zu schicken. Und man muß sich um die … Beerdigung kümmern …« Mit gequältem Blick sah sie wieder auf. »Es ist alles so schrecklich, nicht wahr, Thomasine? Einfach zu schrecklich.«
    Thomasine nickte langsam. Das Gefühl des Irrealen löste sich auf und ging allmählich in heftigen Schmerz über.
    Â»Ich weiß, es ist eine ziemliche Zumutung nach allem, was passiert ist.« Belle schneuzte sich. »Aber du kennst ein paar Leute aus Lallys Freundeskreis. Und Julian ist gerade in Indien, und Boy sagt, daß ihn das alles zu sehr aufregt, also weiß ich nicht, was ich sonst tun könnte. Sie hätte doch eine Nachricht hinterlassen … oder anrufen können. Ich hab alle gefragt, die mir eingefallen sind. Sie ist so rücksichtslos.« Ihre Stimme klang gereizt und ärgerlich. Sie ließ den Schleier ihres Huts über ihr verschwollenes Gesicht fallen und stand auf.
    Â»Ich werde tun, was ich kann«, sagte Thomasine. »Irgend jemand muß doch wissen, wo Lally ist.«
    Nachdem Belle fort war, ging sie in ihr Zimmer und zog sich schnell an. Eine seltsames Sammelsurium von Kleidungsstücken – einen alten Tweedrock, eine blaue Strickjacke mit einem Flicken am Ellbogen, ein Paar ziemlich ausgebeulte schwarze Strümpfe. Selbst ganz einfache tägliche Verrichtungen wie das Ankleiden waren schwierig geworden. Sie steckte ihren Geldbeutel in ihre Manteltasche und stülpte sich einen Hut auf den Kopf. Dann lief sie auf die Straße hinunter, um ein Taxi zu suchen.
    Das lavendelfarbene Licht im Osten zeigte an, daß es dämmerte. Der Karren des Milchmanns ratterte über die Pflastersteine, und der Zeitungsjunge hatte bereits seinen Stand an der Straßenecke aufgeschlagen. Thomasine stellte fest, daß sie nicht die geringste Ahnung hatte, wohin sie sich wenden sollte. Sie versuchte, sich an Lallys Freunde zu erinnern. Da gab es natürlich Simon Melville, obwohl Simon behauptet hatte, nicht mehr mit Lally befreundet zu sein. Thomasine erschauderte.

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