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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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an ihn bargen, fühlte sie sich geschlagen, wie gelähmt. Wenn sie die Augen schloß, war er bei ihr im Raum. Sein Geruch haftete an seinen Kleidern. Sie glaubte, den Abdruck seines Kopfes im Kissen zu sehen. Ein einzelnes dunkles Haar hing an den Borsten seiner Haarbürste. »Nicholas«, flüsterte Lady Blythe. Die Bürste mit dem Elfenbeinrücken, den Kamm, die Kleiderbürste und die Lupe hatte sie ihm geschenkt. Jetzt drückte sie die Bürste an sich und wurde sich eigentlich zum erstenmal seit seinem Unfall der schrecklichen endlosen Leere bewußt, der Ödnis, die ihr Leben nun geworden war. Noch immer sprach er zu ihr: Sie wußte, daß sie seine Abschiedsworte für den Rest ihres Lebens hören würde. »Thomasine soll William bekommen, Mama … Wer bist du, um über ein anderes menschliches Wesen zu urteilen? «
    Sie erschauderte und sah aus dem Fenster. Jetzt erkannte sie deutlich, was die Jahre Drakesden Abbey angetan hatten: die zugewucherten Gärten, die mit Unkraut überwachsenen Wege, die nicht mehr sprühende Fontäne. Sie war nie besonders religiös gewesen, der Kirchgang diente mehr dem Prestige als der Erfüllung eines geistigen Bedürfnisses, dennoch kam ihr gerade jetzt ein Spruch aus dem Buch Jesaja in all seiner quälenden Schönheit und seinem tiefen Leid in den Sinn: »Und Dornen werden ihre Paläste überwuchern, Nesseln und Gestrüpp ihre Festungen einhüllen: Und sie sollen eine Wohnstatt der Drachen sein und ein Ort für Eulen.«

Teil V
    1927 – 1928
    Die Liebe keine Jahreszeit, kein Reifedatum kennt,
Sie teilt nicht ein in Monat, Stund’ und Tag.
    JOHN DONNE , The Sunne Rising

19
    IM FRÜHLING BEWAFFNETE Thomasine sich mit einer Gartenschere, dicken Handschuhen und einem Schubkarren. William trottete hinter ihr her, ein dickes Bündel aus Mantel, Fäustlingen und Knopfstiefelchen. In dem ummauerten Garten spielte er ein wenig abseits von ihr mit seinem Ball, aber Thomasine wußte, daß er sie heimlich beobachtete.
    Sie beschnitt die Rosen, fegte das Gewirr der Äste zusammen und häufte es in den Karren. Die Rosen waren seit Jahren nicht mehr beschnitten worden, wie sie feststellte. Sie kappte den Wildwuchs und alle Triebe, die zu schmächtig waren, um Blüten zu tragen. Es war kalt, aber sonnig. Sie arbeitete sorgfältig, beschnitt und säuberte aus, rechte das verdorrte Laub und die abgefallenen Hagebutten zusammen und zupfte das Unkraut aus, das aus dem Boden schoß.
    Â»William. Komm her und schau dir das an.«
    Gehorsam wie immer kam er her und sah auf die Stelle, auf die sie deutete.
    Â»Eine Raupe. Ist sie nicht hübsch?«
    Â»Ich mag keine Insekten«, sagte William. »Nanny hat gesagt, Insekten sind schmutzig.« Er ging wieder zu der Stelle zurück, an der er Ball gespielt hatte.
    Thomasine nahm die Raupe und brachte sie zwischen dem Farn unter dem Feuerdrachen in Sicherheit. Dann häufte sie die abgeschnittenen Zweige auf die Schubkarre und steckte die Schere in die Tasche.
    Â»Komm mit, William – für heute ist genug getan. Sollen wir ein Feuer machen, um uns aufzuwärmen?«
    Das Kind antwortete nicht, sondern folgte ihr nur stumm – ein kleiner, mürrischer, desinteressierter Vierjähriger, der hinter ihr hertrottete, während sie die Schubkarre aus dem ummauerten Garten und durchs Labyrinth zurückschob.
    Auf dem Rasen, wo sie früher Gurkensandwiches gegessen und aus Porzellantassen Tee getrunken hatten, machte sie das Feuer. Damit es besser brannte, stopfte sie zerknülltes Zeitungspapier zwischen das Laub und die Äste und öffnete die Streichholzschachtel.
    Â»Möchtest du mir beim Anzünden helfen, William?«
    Er sah sie mit seinen hellen blaugrünen Augen an.
    Â»Wir zünden es gemeinsam an«, sagte sie aufmunternd.
    Â»Nanny sagt, Streichhölzer sind gefährlich.«
    Thomasine schaffte es, ihren Ärger zu unterdrücken. »Na ja, das stimmt schon. Aber wenn wir sehr vorsichtig und vernünftig sind, passiert uns nichts.«
    Mit vorgeschobener Unterlippe stand er am anderen Ende des aufgeschichteten Holzstoßes. Noch einmal zeigte sie ihm die Streichholzschachtel, aber er schüttelte eigensinnig den Kopf, so daß sie sich hinkniete und das Feuer selbst anzündete.
    Als das Zeitungspapier aufloderte und das Laub knisternd Feuer fing, stellte sie sich neben ihren kleinen, stolzen

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