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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Unterricht teil und sah mit offenem Mund zu, wie sie ihrem Sohn die Buchstaben beibrachte. Doch als er versuchte, seinen Namen zu schreiben, stellte er sich so ungeschickt an, daß das Ergebnis völlig unleserlich war.
    Manchmal, wenn sie am Ende eines anstrengenden Tages ins Bett fiel, sah sie sich zufällig im Spiegel: ein ausgebeulter Tweedrock und immer öfter ein Paar von Nicholas’ alten Hosen, die sie in der Taille zusammenschnürte. Mehrere Pullover übereinander und einen dicken Schal um den Hals. Ihr Haar reichte inzwischen bis auf die Schultern herab und wurde mit einem Band zurückgehalten.
    Ein paar von den Feldern behielt sie, weil sie noch nicht bereit war, sie zu verkaufen. Es waren die Felder, die bis zum Deich reichten und an Daniel Gillorys Land grenzten, das jetzt von den Dockerills bewirtschaftet wurde.
    Ende Februar fiel der Generator aus. Thomasine warf einen Blick auf das komplizierte Gewirr aus Röhren und Räderwerk und machte entnervt die Tür zum Generatorraum wieder zu. Bei der Suche durchs Haus fand sie die Kerzen und Öllampen wieder. Jetzt spielte es keine Rolle mehr, daß sie die besten Kerzen in den Räumen fürs Hauspersonal verwendete, da es kein Personal mehr gab.
    Bald stellte sie fest, daß es unmöglich, aber auch unnötig war, das ganze Haus zu heizen und zu beleuchten, wenn sie fast ausschließlich unten in der Küche wohnten. Nachdem Drakesden Abbey Elektrizität bekommen hatte, war der Herd jahrelang nicht mehr in Betrieb genommen worden, aber Thomasine putzte und polierte ihn, und nach vielen vergeblichen Versuchen fand sie heraus, wie man ihn anzündete. Sie ließ ihn ständig brennen, heizte mit dem Holz, das Eddie hackte, und so gab es wenigstens einen warmen Raum im Haus. Sie nahmen auch die Mahlzeiten in der Küche ein und saßen an dem riesigen Tisch, an dem früher das Personal gesessen hatte. William haßte das. »Küchen sind für Dienstboten«, erklärte er verächtlich.
    Anfangs war das Glück, wieder mit ihrem Sohn zusammenzusein, überwältigend gewesen. Es war, als sei ihr ein Teil ihres Körpers zurückgegeben worden. Gemeinsam mit William auf Drakesden fühlte sie sich wieder vollständig. Doch bald begann sie einzusehen, daß es nicht ganz so einfach war. Williams Erinnerungen an sie waren mit schweren Verlustängsten verbunden. Die Zuneigung, die während der drei Jahre, als sie sich nur einmal im Monat sahen, aufblühte, war bei jeder Trennung wieder zerstört worden. Sie wußte, daß Williams Kälte ihr gegenüber aus Zorn und Stolz und der Angst herrührte, wieder verlassen zu werden, und sie hatte noch keine Möglichkeit gefunden, diese Mauer zu durchbrechen.
    Sie wußte auch, daß ihn die vielen plötzlichen Veränderungen verwirrt und verängstigt hatten: der Verlust seines Vaters, die Abwesenheit seiner Großmutter, der Weggang seiner Nanny, und erst kürzlich der Abschied von Martha, die eine lukrativere Stelle bei einem Friseur in Ely gefunden hatte. William war gezwungen, seine Mahlzeiten in der Küche einzunehmen, sich mit seiner Mutter ein Schlafzimmer zu teilen, statt im Kinderzimmer zu schlafen, und zudem sollte er jetzt auch noch im Garten herumbuddeln. Er hatte kein Kindermädchen mehr, das ihm beim Anziehen und Waschen half – schlimmer noch, seine Mutter brachte ihm bei, diese Dinge allein zu tun. Drakesden Abbey war kalt, leer und fremd geworden. Verwirrt zog er sich in sich selbst zurück, in der Hoffnung, sein Leben würde bald wieder so werden, wie er es kannte.
    Thomasine entdeckte in William ihren eigenen Stolz und Nicholas’ Abneigung gegenüber Unordnung wieder. Er war höflich, distanziert und beherrscht und schämte sich bereits wie Nicholas über seine Unsicherheit. Ihr brach fast das Herz, als sie die Kämpfe bemerkte, die der kleine Junge in seinem Inneren auszufechten hatte. Er konnte nicht spielen, wie sie feststellte. Er konnte lesen, seinen Namen schreiben und Zahlen erkennen, aber er wußte nicht, wie man einen Sandkuchen buk oder Seifenblasen machte. Wenn sie ihm sagte, er solle spielen, stellte er seine Zinnsoldaten in säuberlichen Reihen auf oder stapelte konzentriert Holzklötzchen aufeinander. Als Thomasine die Küchenschränke öffnete und ihm die Regale voller Marmeladenschälchen, Töpfe, Schneebesen und Holzlöffel zeigte, kroch er nicht hinein, um

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