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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Plätze frei, also griff Daniel nach einem der Haltegurte. Er versuchte, sein Herzklopfen zu ignorieren, als der Zug Geschwindigkeit aufnahm. Die Stenotypistinnen und Buchhalter starrten gelangweilt an die Decke, und Daniel konzentrierte sich auf den Hut einer Frau und die Schlagzeile in einer Zeitung. Wenn er dies hier schaffte, sagte er sich, schaffte er alles. Er würde Arbeit finden und wieder auf die Füße kommen. Er wäre nicht mehr die leere zerbrechliche Hülse, die der Krieg aus ihm gemacht hatte.
    Er schaffte es eine Weile lang. Dann kam der Zug in einem Tunnel langsam zum Stehen, die Lichter flackerten und gingen aus. Die Buchhalter und Stenotypistinnen stöhnten auf, und Daniel roch wieder herunterstürzende Erde, spürte den Druck des gebrochenen Holzes im Graben und die schwere Last des Morastes an seinem Bein. Ohne hinzusehen, wußte er, daß alle seine Freunde tot waren, daß er als einziger die Explosion des Granatwerfers überlebt hatte. Wenn er sich bewegte, hatte er höllische Schmerzen und brachte außerdem weiteres Erdreich ins Rutschen. Er hatte Angst, sich noch einmal zu rühren, aus Furcht, die kleine Luftblase zu verlieren, die ihn am Leben erhielt. Es gäbe wohl kein Entrinnen mehr für ihn. Er wollte sterben.
    Als die Lichter angingen und der Zug sich wieder in Bewegung setzte, stellte Daniel fest, daß er leise Selbstgespräche führte. Seine Stirn war naß vor Schweiß, und er hatte sich gegen die Tür gepreßt. Eine Frau starrte ihn mißbilligend an, wahrscheinlich hielt sie ihn für betrunken. Ruckartig blieb der Zug stehen, er fiel fast auf den Bahnsteig und rannte dann die vielen Stufen hinauf.
    Draußen regnete es noch immer, aber er lehnte sich an einen Ladeneingang und japste mit weit aufgerissenen Augen nach Luft, während ihm der Regen ins Gesicht tropfte. Er war nur eine Station weit gefahren, von Knightsbridge nach Kensington. Zwei Jahre war es jetzt her, dachte er. Er wollte jemanden töten, irgend jemanden, in erster Linie sich selbst. Fast zwei verdammte Jahre waren seit Passchendaele vergangen.
    Schließlich rieb er sich die Augen und sah auf die belebte Straße hinaus. Sein Herzklopfen begann nachzulassen, und die mit Autos, Lastwagen, Pferden und Karren verstopfte Londoner Straße nahm wieder deutliche Gestalt an. Es gab wirklich nichts, wovor er sich zu fürchten brauchte, seine Ängste existierten nur in seinem Kopf. Er war ein Krüppel an Leib und Seele, sagte er sich. Er war nutzlos. Abgestumpft las er die Namen der Geschäfte auf der anderen Straßenseite: H. G. Green, Delikatessen; Laskeys: alles für den Sportsmann; Chantals Damenmoden.
    Er überquerte die Straße. Es war Mittagszeit, und aus allen Geschäften und Büros strömten die Angestellten heraus. Daniel bahnte sich einen Weg durch die Menge und wich den Automobilen aus.
    Als er bei dem Geschäft ankam, ging die Tür auf, und Fay trat heraus. Diesmal war sie allein, ohne Phyllis. Es kam ihm vor wie ein Wunder, sie wiederzusehen. Fast schien es, als hätte seine Not sie herbeigezaubert – eine exotische, zigeunerhafte Fee, die den dunklen, hungrigen Orten seiner Seele entsprungen war.
    Aber sie war kein Geist. Sie entdeckte ihn sofort, und als sie sich umdrehte, strahlte sie ihn an. »Na, so was, Captain Gillory. Wie schön. Haben Sie lange auf mich gewartet?«
    Â»Eine Ewigkeit«, antwortete er und küßte ihre Hand.
    Sie verbrachten den Nachmittag zusammen. Es war Fays freier Nachmittag, und sie mußte diesmal nicht zur Arbeit zurück. Sie spazierten durch den Park, stellten sich in Geschäften oder Museen unter, um sich vor den ständigen Regenschauern zu schützen, und landeten schließlich im Lyons Corner House in der Coventry Street.
    Â»Ich sehe aus wie eine ertränkte Ratte.« Fay saß am Tisch und musterte in einem kleinen Spiegel ihr Gesicht.
    Â»Sie sehen wunderschön aus«, sagte Daniel.
    Es war die reine Wahrheit. Der Regen und der lange Spaziergang hatten ein wenig Farbe auf ihre blassen Wangen gezaubert, und ihre Augen glänzten dunkel. Sie errötete nicht und wies sein Kompliment nicht zurück, was Daniel freute. Statt dessen lächelte sie wieder und steckte den Spiegel in ihre Handtasche zurück.
    Â»Wie sind Sie zu Ihrer Beinverletzung gekommen?« fragte sie.
    Er erzählte ihr, wie der Graben, in dem er und seine Leute Deckung genommen

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