Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
mir zugestoßen ist.«
    Â»Ich bringe Sie nach Hause, Miss Belman.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Sie bleiben hier, Captain Gillory, und genießen den Rest des Abends.« Dann war sie fort. Die hohen Absätze ihrer Schuhe klackten auf dem Pflaster, und Phyllis hastete neben ihr her.
    Vor Enttäuschung hätte Daniel am liebsten die beiden Glasschalen auf dem Gehsteig zertrümmert, aber er begnügte sich damit, leise zu fluchen. Er hatte alles falsch gemacht, dachte er. Er hatte weder das Richtige gesagt noch getan. Er hätte ihr Blumen kaufen sollen oder sie in ein Theater oder Restaurant einladen sollen – wenn ihm bloß das Geld für derlei Dinge nicht gefehlt hätte. Eine Bootsfahrt und ein Eis – mein Gott, kein Wunder, daß sie verschwunden war, bevor er ein neues Wiedersehen vorschlagen konnte.
    Nachdem das Vortanzen vorbei war, kehrten sie in die Garderobe zurück. Zwei der Mädchen, die wußten, daß sie schlecht gewesen waren, zogen sich um und liefen, Abschiedsworte rufend, die Eisentreppe hinunter. Der Rest von ihnen blieb erschöpft sitzen, und ihr Schweigen wurde nur von gelegentlichem nervösem Kichern, der Bitte um eine Zigarette oder gemurmelten Kommentaren zu den Ereignissen der vergangenen Stunde unterbrochen.
    Â» Schrecklicher Kerl«, sagte jemand. »Der Choreograph, meine ich. So ein Tyrann.«
    Â»Diese chinesische Einlage. Ich dachte, ich breche mir den Hals.«
    Â»Die Sekretärin hat mir gesagt, Clara Rose wird der Star der Show.«
    Â»Die hat vielleicht Glück«, sagte jemand neidisch. »Ihre eigene Garderobe. Könnt ihr euch das vorstellen?«
    Thomasine mußte der Versuchung widerstehen, hinter ihrem Rücken die Finger zu kreuzen. Ihrer Meinung nach war das Vortanzen gut gelaufen, aber man wußte ja nie. Manchmal wollten sie nur Blondinen, manchmal sollten alle Mädchen eine bestimmte Größe habe. Die Aussicht, nach Paris zu kommen, war verlockend nahe gerückt und damit die Möglichkeit, ihre Karriere wirklich voranzutreiben. Es wäre eine richtige Revue in einem echten Theater. Die meisten Aufführungen, bei denen sie während des Krieges mitgewirkt hatte, waren Wohltätigkeitsveranstaltungen, um Geld fürs Rote Kreuz oder für Witwen und Waisen zu sammeln oder um Soldaten auf Genesungsurlaub zu unterhalten. Selbst Antonia hatte widerwillig zugegeben, daß ein Jahr in einer Revue in Paris Thomasines Karriere nur förderlich sein konnte.
    Schließlich ging die Tür auf, und die Sekretärin spähte herein. Ein plötzliches unbehagliches Schweigen lähmte die wartenden Tänzerinnen. Dreißig besorgte Gesichter starrten auf das Blatt Papier, das die Sekretärin in der Hand hielt.
    Â»Das ist die Liste der Mädchen, die ausgewählt wurden.« Sie las die Namen mit hoher, weinerlicher Stimme vor. »Violet Smith, Edith Hall, Poppy Barrett, Thomasine Thorne, Alice Johnson …«
    Stürmisch schlang Thomasine die Arme um Alice.
    Daniel bewarb sich wieder um eine Arbeit, diesmal in Knightsbridge. Das Vorstellungsgespräch hatte gerade fünf Minuten gedauert, da wußte er bereits, daß es zwecklos war. Ein gebrechlicher älterer Herr suchte einen männlichen Betreuer: jemanden, der seine Briefe schrieb, seinen Hund ausführte, mit ihm Schach spielte. Daniel wußte, wie sehr ihm dies mißfallen würde, und als ihn sein potentieller Arbeitgeber fragte, welche Schule er besucht habe, sagte er die Wahrheit.
    Draußen regnete es stark. Es war kein Bus in Sicht, aber die U-Bahn-Station war gleich auf der anderen Straßenseite. Verärgert über den vergeudeten Morgen, verärgert über sich selbst, zwang sich Daniel, in die schwarze, gähnende Öffnung hinunterzusteigen und eine Fahrkarte zu lösen. Der Weg zu den Zügen war wie ein Abstieg in die Hölle. Er zwang sich weiterzugehen, die vermeintlich tausend Stufen hinabzusteigen. Leute schubsten ihn, sein Bein schmerzte. Als er das Ende der Treppe erreicht hatte, bestieg er den ersten Zug, der auf dem Bahnsteig ankam, weil er sicher war, daß ihn sonst der Mut verließe.
    Der Zug ruckte und quietschte beim Anfahren. Er war dicht besetzt: Das war gut, sagte sich Daniel. Niemand konnte sich einbilden, in einem eingestürzten Graben verschüttet zu werden, wenn er von fünfzig schwitzenden Buchhaltern und Stenotypistinnen umringt war. Es waren keine

Weitere Kostenlose Bücher