Die geheimen Jahre
zwischen den Nachmittags- und den Abendvorstellungen. Weil er Engländer und sein Vater Sir William Blythe war, hatte die Anstandsdame nichts einzuwenden, daà Nicholas sie zum Tee ins Fouquetâs oder ins Café Anglais ausführte. Sie fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft. Verglichen mit der aufreibenden emotionalen UngewiÃheit ihrer Beziehung zu Clive waren die Nachmittage mit Nicholas herrlich. Er ermutigte sie, statt sie zu kritisieren. Es machte ihm genausoviel Freude, einfach mit Thomasine auf einer Bank zu sitzen und den im Park spielenden Kindern zuzusehen, wie einen ausgefallenen Nachtklub mit ihr zu besuchen. Sie entdeckte die Freuden ihrer früheren Freundschaft wieder, eine Freundschaft, die kaum aufgeblüht war, als sie auch schon wieder beendet wurde. Nicholas war nie unaufrichtig, nie unvernünftig fordernd. Wenn Thomasine zuweilen eine innere Angegriffenheit bei ihm spürte, die sein gutes und gesundes Aussehen Lügen strafte, führte sie dies auf seine Jahre in Flandern zurück und behandelte ihn mit besonderer Rücksicht. Der Gegensatz zwischen ihrer Freundschaft mit Nicholas und der Liebesaffäre mit Clive war eklatant, sehr zu Clives Nachteil.
Doch die ganze Woche hindurch litt sie immer noch unter Ãbelkeitsanfällen. Gewöhnlich befielen sie sie am Morgen, gelegentlich spät in der Nacht oder wenn eine besonders üppige Mahlzeit vor ihr stand. Schon beim Anblick der dick mit Sahne und Puderzucker bedeckten Kirschtörtchen, die sie bei Fouquetâs bestellt hatte, muÃte Thomasine schnell auf die Toilette laufen. Nicholasâ Angebot, sie zum Arzt zu begleiten, lehnte sie ab, indem sie ihm erklärte, bereits beim Arzt gewesen zu sein. Tatsächlich jedoch konnte sie sich keinen Arzt leisten. Sie war eben kein fettes Essen gewöhnt, dachte sie. Die Kriegsjahre und der Mangel an Geld hatten ihr das nicht erlaubt.
Später erkannte sie, daà die Woche mit Nicholas die Ruhe vor dem Sturm gewesen war. Und der brach eines Sonntag morgens los, der einzige Tag, an dem sie lange im Bett bleiben durfte. Nachdem sie aus einem unruhigen Traum erwacht war, muÃte sie zur Toilette eilen. Als sie frierend und zitternd wieder zurückkehrte, saà Alice aufrecht im Bett.
»Gestern morgen war dir auch schon schlecht.« Alices Stimme klang vorwurfsvoll.
Thomasine legte sich vorsichtig wieder unter die Laken, rollte sich zusammen und zog die Steppdecke über sich. »Mir war diese Woche fast jeden Morgen schlecht. Ich muà was Falsches gegessen haben.«
Alice schwieg eine Weile. Dann fragte sie: »Ansonsten gehtâs dir aber gut? Ich meine â du hast deine Periode bekommen?«
Thomasine hatte die Augen geschlossen. »Es ist nicht die Periode«, antwortete sie schläfrig. »Damit bin ich allerdings tatsächlich ein biÃchen spät dran.«
»Wie spät?«
Thomasine wollte sich einfach umdrehen und wieder einschlafen. Sie und Alice hatten seit Wochen kaum ein Wort miteinander gesprochen. Alices plötzliches Interesse an ihrer Gesundheit war irritierend.
» Wie spät, Thomasine?«
Ãrgerlich begann sie nachzurechnen. »Etwa drei Wochen, glaube ich. So in etwa.«
»Gütiger Gott« , sagte Alice leise.
Etwas in Alices Tonfall lieà Thomasine die Augen aufschlagen. »Ich glaube nicht, daà es eine Magenverstimmung ist.«
Helles Sonnenlicht drang durch die Fensterläden herein. Alice hatte einen Morgenmantel angezogen und suchte in ihrer Tasche nach Zigaretten.
»Wie weit bist du mit Clive gegangen?«
Thomasine spürte, wie sie rot wurde. Sie antwortete nicht.
»Du hast ihn mit dir rummachen lassen, stimmtâs? Um Himmels willen, warum bist du denn nicht vorsichtiger gewesen?«
Plötzlich siegte der Zorn über ihre Mattigkeit. Daà Alice es wagte, sie zu kritisieren â Alice, die kaum eine Nacht in ihrem eigenen Bett schlief.
»Laà mich in Frieden, Alice. Es geht dich nichts an.«
Alice schlug die Fensterläden zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Nein, etwa nicht, zum Teufel? Wie soll ich Mrs. Russell je wieder ins Gesicht sehen? Ich sollte doch ein Auge auf dich haben.«
Thomasine setzte sich auf und starrte Alice an. Die Ãbelkeit meldete sich wieder, eine rachsüchtige schwarze Bestie, die beständig in ihrer Magengrube lauerte.
»Tante Tony braucht nichts von mir und Clive zu erfahren. Du erzählst
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