Die geheimen Memoiren der Jane Austen - Roman
reizenden Tochter namens Anna zurückgelassen) und dass er zudem auch einmal Eliza de Feuillide leidenschaftlich geliebt hatte, die inzwischen Henrys Ehefrau geworden war.
James schien zwar in dieser Ehe recht zufrieden zu sein, aber ich denke, dass die übrige Familie mit mir einer Meinung war: Marys eifersüchtige Unsicherheit hatte sie zu einer aufreizend taktlosen, übellaunigen und überheblichen Person gemacht. Und die arme Anna behandelte sie überhaupt nicht nett. (Ganz zu schweigen vom größten Fehler, den sie in meinen Augen besaß: Sie hatte etwas gegen Bücher und las so wenig wie möglich.) Trotzdem hatte ich, ungeachtet der Beschwerden, die meine Mutter in letzter Zeit in ihren Briefen geäußert hatte, doch
gehofft
, dass uns Mary freundlich empfangen würde, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass meine Mutter krank gewesen war und erwartet hatte, sich in dem Haus, das beinahe vier Jahrzehnte
ihr
Zuhause gewesen war, ausruhen und erholen zu können.
Als wir aus der Kutsche stiegen, kam meine Mutter aus der Haustür gelaufen und empfing uns mit offenen Armen und einer unheilverkündenden Warnung.
»Wie froh ich doch bin, dass ihr Mädchen endlich eingetroffen seid! Ich habe euch so vermisst!« Meine Mutter umarmte uns abwechselnd und tupfte sich die Freudentränen aus den Augen. Dann warf sie einen verstohlenen Blick zur offenen Haustür und fügte leise hinzu: »Erhofft euch von dieser Mary keine herzliche Begrüßung. Sie ist den ganzen Monat schon in übelster Laune.«
In dem Augenblick kam mein junger Neffe Edward mit all der Energie und Begeisterung eines Neunjährigen ausder Tür gerannt. »Tante Jane! Tante Cassandra!«, rief er und stürzte sich in unsere Arme. »Wartet, bis ihr die Festung gesehen habt, die ich im Garten aufgebaut habe! Sie ist wunderbar, einfach großartig! Du musst mir unbedingt Geschichten erzählen, wenn du hier bist! Das machst du doch, Tante Jane? Auf dem Baum vor meinem Fenster sitzt ein Vogel, den ich noch nie gesehen habe. Du musst mitkommen, Tante Jane, und mir sagen, was es für ein Vogel ist.«
Ich lachte und versprach ihm, ich würde Geschichten erzählen und mir den Vogel ansehen, sobald ich konnte. Mein Bruder James hieß uns gesetzt wie immer willkommen und brachte seine Besorgnis zum Ausdruck, wir könnten von der Reise übermüdet sein. Auch die anderen Kinder tauchten schon bald auf, um uns zu begrüßen. Anna war mit ihren fünfzehn Jahren eine reizende, intelligente junge Dame, die ich ganz besonders mochte, und Caroline war ein schüchternes, goldiges kleines Mädchen von vier Jahren.
»Herrje! Wo sollen wir nur all das unterbringen!«, rief Mary unfreundlich, als die Wagen, in denen unsere gesamte weltliche Habe verstaut war, hinter uns anhielten.
»Es ist doch nur für einige Monate, meine Liebe«, beschwichtigte sie James. »Ich bin sicher, wir können im Schuppen und in der Scheune Platz dafür finden.«
Während meine Mutter noch erklärte, wie sehr sie die Hilfe der beiden in diesem Übergang in unserem Leben zu schätzen wusste, wandte sich Mary bereits mit gerunzelter Stirn zu mir und meiner Schwester und sagte: »Ihr werdet euch eines der Mansardenzimmer teilen müssen, da eure Mutter bereits Annas Zimmer in Beschlag nimmt und all die anderen Zimmer vergeben sind.«
»Ich bin sicher, dass wir uns dort sehr behaglich fühlen werden«, erwiderte ich. »Wie glücklich wir uns schätzen können, dass wir eine Familie haben, die uns so freundlich aufnimmt.«
»Schau nur, was Tante Jane und ich heute auf der Wiese gefunden haben«, verkündete Edward beim Abendessen voller Stolz, streckte die Hand aus und zeigte drei winzige, leere Schalen von Rotkehlcheneiern vor.
»Das sind aber schöne neue Stücke für deine Sammlung, mein Junge«, meinte James.
»Leg sofort die schmutzigen Dinger weg!«, rief Mary mit angeekelt gerümpfter Nase. »Wir sitzen beim Essen! Letzte Woche war es eine tote Maus. Davor ein außerordentlich bizarrer Käfer. Die Dinge, mit denen kleine Jungen unbedingt spielen müssen, sind wirklich widerwärtig.«
Edward machte ein langes Gesicht und ließ die anstößigen Gegenstände rasch wieder in der Tasche verschwinden. James verstummte und beschäftigte sich angelegentlich mit dem Essen.
»Der Junge hat eben Freude an der Natur«, sagte ich und warf meinem Neffen ein aufmunterndes Lächeln zu.
»Er hat Freude daran, mich zu ärgern«, erwiderte Mary. Dann drehte sie sich zu ihrer Stieftochter. »Anna, hör sofort
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