Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Aber, Arthur …«
Er hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Genug. Wir wollen uns die Reise davon nicht verderben lassen. Wir sollten nicht mehr darüber sprechen.« Der freudige Tonfall, der bisher in all seinen Worten mitgeschwungen hatte, war nun völlig verschwunden. Das warme, liebevolle Funkeln seiner Augen war ebenfalls fort und hatte einer niedergeschlagenen Resignation Platz gemacht, die mich überaus schmerzlich berührte. »Ich möchte jetzt gern ein wenig allein spazieren gehen, wenn es dir nichts ausmacht.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging fort.
Oh! Was hatte ich nur getan? Warum hatte ich nicht sofort und mit Bestimmtheit meinen Mann verteidigt, als die junge Frau diese furchtbare Bemerkung äußerte? Mit wenigen schlecht gewählten Worten hatte ich gerade jenes bisschen Zuneigung und Vertrauen zerstört, die mein Mann und ichin den vergangenen Wochen und Monaten aufgebaut hatten. Wie konnte ich den Schaden, den ich angerichtet hatte, je wiedergutmachen?
Den Rest der Überfahrt verbrachte ich unten in unserer Kabine und fühlte mich zunehmend elend – ob es an meiner Seekrankheit oder an meinen Ängsten lag, vermochte ich nicht zu ergründen. Arthur war nur selten bei mir. Das Schiff legte kurz vor Mitternacht in Kingston an. Als wir uns an Deck versammelten, wurde meine Trübsal durch die kalte, feuchte Luft und die finstere, schwarze Nacht nur noch größer. Die Lichter des fremden Hafens erschienen mir nicht wie funkelnde Juwelen, sondern wie zahllose bedrohliche Augen. Zwischen mir und Arthur herrschte nun eine steife Förmlichkeit – und das hatte ich allein mir selbst zuzuschreiben.
Wir gingen von Bord, wo uns Arthurs Bruder Alan erwartete. Die beiden Männer stießen Freudenschreie aus, als sie einander erblickten, und umarmten sich herzlich. Alan Nicholls war beinahe drei Jahre älter als Arthur und ähnelte ihm sehr. Er hatte das gleiche schwarze Haar, die gleichen blitzenden Augen und den gleichen kräftigen Körperbau.
»Alan, darf ich dir meine Frau Charlotte vorstellen«, sagte Arthur und schob mich sanft nach vorn, eine Hand auf meinem Rücken. Seine Miene war eine perfekte Maske, verriet mit keinem Anzeichen den inneren Aufruhr, unter dem er, wie ich wusste, gerade litt. Niemand, der die folgenden Worte hörte, hätte auch nur ahnen können, dass es zwischen uns vor wenigen Stunden eine Meinungsverschiedenheit größeren Ausmaßes gegeben hatte.
»Nun, nun! Das ist also deine liebe Charlotte! Endlich lernen wir uns kennen«, rief Alan, während er mich mit einem warmen, anerkennenden Lächeln musterte. Seine tiefe Stimmeund sein ausgeprägter irischer Akzent ähnelten denen meines Mannes so sehr, dass ich mit geschlossenen Augen sicherlich nicht hätte unterscheiden können, wer von beiden gerade sprach. »Arthur schwärmt schon so lange von Ihnen, dass wir uns bereits gefragt haben, ob es Sie wirklich gibt. Ich bin erleichtert, dass dem so ist.« Damit nahm er meine Hand in die seine und küsste sie, lehnte sich dann kühn vor und gab mir einen herzhaften Kuss auf die Wange. »Willkommen in unserer Familie, Schwester.«
»Danke!«, sagte ich und erwiderte sein freundliches Lächeln.
Nachdem unser Gepäck gefunden und in eine Droschke verladen worden war, rumpelten wir über das Kopfsteinpflaster davon in Richtung Dublin.
»Ich habe mir für die nächsten beiden Wochen Urlaub genommen«, sagte Alan. Ich wusste, dass er das Trinity College früh und ohne Abschluss verlassen hatte und nun als Schiffsmakler tätig war und für den Grand Canal von Dublin nach Banagher arbeitete. Zu meinem Entzücken stellte ich fest, dass er ein scharfsinniger, gebildeter und höflicher Mann war. »Ein ganzes Bataillon von Familienmitgliedern erwartet Sie in Banagher, Charlotte – begierig darauf, die Bekanntschaft der Frau zu machen, die das Herz unseres Arthurs gestohlen hat.«
»Ich freue mich darauf, sie alle kennenzulernen.«
»Das dauert aber noch einige Tage«, wandte Arthur ein. »Ich hoffe, Charlotte erst noch Dublin zeigen zu können.«
»Natürlich«, antwortete Alan. »Unser Zuhause steht euch zur Verfügung, und ich begleite euch gern überall hin.«
Alans kleines Haus mit seinen zwei Stockwerken übertraf meine Erwartungen. Obwohl bescheiden, war es doch bequem und lag an einer sehr angenehmen Straße. Da es sehr spät war, schlief seine Familie bereits, und wir zogen uns zurück,sobald wir angekommen waren. Als
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