Die Geheimnisse der Therapeuten

kürzester Zeit zum Tomatenproduzenten werden und versuchen, Ihre Tomaten in Frankreich und anschließend in ganz Europa zu verkaufen. Und vermutlich werden Sie dann wieder wegen zu hohen Stresses zu mir kommen.«
    Mit dieser Bemerkung traf er den Nagel auf den Kopf. Tatsächlich liegt das Problem nicht darin, sein Leben zu ändern –Tomatenproduzent statt Psychiater zu werden; es ist die Art, wie wir unser Leben leben, die fragwürdig ist. Ich begriff, dass ich zu hohe Anforderungen an mich stellte, dass ich zu viel wollte. Ich war vermutlich Perfektionist im guten wie im schlechten Sinn dieses Persönlichkeitsmerkmals. Ich begriff, dass mein Perfektionismus mir zum Erfolg verholfen hatte; er hatte mir geholfen, Arzt zu werden und gute Arbeit zu leisten (was für mich wie schon für meinen Vater ein sehr hoher Wert ist). Der Perfektionismus war also die Triebfeder meines Erfolgs und meines Wohlbefindens, aber ebendieser Perfektionismus begann mir das Grab zu schaufeln. Ein Zuviel an Perfektionismus, ein Zuviel an Energie, die wir vergeuden, erschöpft uns auf die Dauer. Wie so oft in der Psychologie kann ein und derselbe Charakterzug die ganze Bandbreite des Verhaltens abdecken, vom Guten bis zum Exzess, vom Besseren bis hin zum extremen Gegenteil.
    Nach Schicksalsschlägen wieder auf die Beine kommen
    Mithilfe des Wochenplans Bilanz zu ziehen, Ihre Ziele im Laufe Ihres Lebens immer wieder zu definieren, entweder in regelmäßigen Abständen oder bei einschneidenden Ereignissen, ist höchst nützlich, um zu wissen, welche Werte Sie haben, und zu begreifen, wo Sie im Augenblick stehen. Ich hatte Gelegenheit, in bestimmten Augenblicken Bilanz zu ziehen.
    Das war der Fall, als ich einen ziemlich schweren Unfall hatte, der einen partiellen Verlust der Beweglichkeit meines Ellbogens und eine mehrmonatige Arbeitsunfähigkeit nach sich zog. Es war das erste Mal, dass ich nicht arbeitete. Ich hatte nie vorgehabt, eines Tages nicht zu arbeiten, ich hatte nie geglaubt, dass mir so etwas passieren könnte. Ich wurde von heute auf morgen komplett abhängig: Ich konnte weder das Fleisch auf dem Teller schneiden noch mein Hemd zuknöpfen oder meine Schuhe zubinden. In Augenblicken, in denen man mit einem unvorhergesehenen einschneidenden Ereignis konfrontiert wird, stellt man sich die Frage, welche Werte man hat. Würden meine Werte – die Arbeit, ein guter Arzt sein, ein guter Psychiater sein – auch nach dem Unfall noch Bestand haben können? Wie würde ich weitermachen?
    Ich führte diese Übung auch in der Phase meiner Scheidung durch. Nach 32 Jahren eines glücklichen Lebens kam sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Was sollte nun aus meinen Werten »Ehe«, »Familie«, »Kinder« werden? Die Untersuchung der Werte, die ich damals hatte, erlaubte mir wahrscheinlich, meine Scheidung besser zu verkraften. Ich war offener für die verschiedenen Paare in meiner Umgebung, ich begann mit befreundeten Paaren mehr über meine Beziehungsprobleme zu sprechen. Mehrere sagten mir, ich hätte mich infolge meiner Trennung anderen stärker geöffnet.
    Der Wert »Kinder«, der in meinem Leben immer bestanden hatte, aber den ich aufgrund meiner übermäßigen Arbeit ein wenig vernachlässigt hatte, trat wieder in den Vordergrund. Es war mir sehr wichtig, unsere Beziehung zueinander zu stärken (meine Kinder waren schon groß) und zu wissen, wie es um unsere Bindung stand. Was meinen Körper angeht, kümmere mich seither sehr um ihn, weil mir inzwischen bewusst ist, dass die Gesundheit, auch wenn sie kein Wert an sich ist, dennoch ein Mittel oder Werkzeug bildet, das uns befähigt, Dinge umzusetzen. Das merkt man erst, wenn man sie nicht mehr hat.
    Das Leben konfrontiert uns mit scheinbar negativen Ereignissen, die uns bereichern und helfen können, unsere Werte genauer zu erfassen. Wie wir gesehen haben, bilden sich diese Werte in unserer Vergangenheit, wir erneuern sie in der Gegenwart und projizieren sie in die Zukunft über den Umweg folgender fundamentaler Fragen: »Was werde ich weitergeben?«, »Was wird nach mir bleiben?«

    Â»Wohin gehst du?« – Den Faden der Ariadne aufrollen, der den Sinn unseres Lebens lenkt
    Wie können Sie Ihre zukünftigen Werte entdecken?
    Ich schlage gewöhnlich eine Übung vor, die ich »Die letzte Lebensminute« nenne: Ich sage dem Betreffenden: »Wenn Sie in einer