Die Geheimnisse der Therapeuten
seit es Leben auf der Erde gibt, auf ein einziges Jahr konzentrieren würde, würde der Mensch am 31. Dezember um 23 Uhr 30 auftauchen, und ein menschliches Leben würde einige Hundertstelsekunden dauern!
Die Weisheit der Wissenschaft
Für Jean-Pierre Changeux, Gerald Edelman, Scott Atran und andere sind der Geist oder die Seele das Produkt der Tätigkeit unserer Gehirnzellen. Die Dualität von »Körper und Seele« ist überlebt, sie ist für Antonio Damasio Descartesâ Irrtum. 45 Auch ich bin mit all diesen Autoren der Ansicht, dass die Unsterblichkeit der Seele ein überkommener Mythos ist, der mit allen modernen wissenschaftlichen Fakten kollidiert. Wenn die Gehirnfunktionen aufhören und das EEG nur noch eine gerade Linie anzeigt, ist der Verlust des Bewusstseins, der Seele, irreversibel. Die Mythen sind also durch wissenschaftliche Interpretation ersetzt worden, was es mir ermöglicht hat, die Angst vor dem Tod und dem daraus entstehenden Leiden abzulegen: Der Tod ist unvermeidlich, denn er ist Teil der biologischen Evolution. Ich akzeptiere die Naturgesetze mit Gelassenheit.
45 Antonio Damasio: Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des Bewusstseins. Siedler, Berlin 2011.
Gewöhnlich werden Materialismus und Spiritualität einander gegenübergestellt. Die Ethik, die Uneigennützigkeit, die innere Entwicklung, das Einfühlungsvermögen und die Transzendenz sind Züge, die der Spiritualität zugeschrieben werden. Der Sinn des Wortes Materialismus hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Bestimmte griechische Philosophen â Demokrit, Epikur, Aristoteles â glaubten an den »materiellen« Ursprung des Lebens und Denkens und waren gewissermaÃen unsere echten Vorläufer in der Vorwegnahme unserer gesamten heutigen Vorstellungen über das Leben. Platon dagegen stellte Körper und Geist in einen Gegensatz. Die Monotheisten haben diese Position wieder aufgegriffen und die Existenz der Seele und parallel dazu den Mythos vom Leben nach dem Tod zum Dogma gemacht.
Später wurde der Materialismus nach der Definition des Wörterbuchs Larousse »zu der Art, wie diejenigen leben, für die nur materielle Güter und sofortige Vergnügungen zählen«: Lust, Habgier und Liebe zum Geld. Die Spiritualität ist lobenswert und tugendhaft; der Materialismus ein vulgäres und beschämendes Betragen.
Wissenschaft und Spiritualität
Tatsächlich ist es möglich, Materialist, Agnostiker oder Atheist und gleichzeitig spirituell zu sein: Ich bin Materialist, weil alle Errungenschaften der Neurowissenschaften in den letzten Jahren deutlich zeigen, dass der Geist oder die Seele das Produkt der Aktivität der Gehirnneuronen ist. Ich glaube nicht an die Dualität von »Körper und Seele«. Alles ist Materie, und ich fürchte und bekämpfe über alle MaÃen alles Irrationale, den Aberglauben und das magische Denken. Aber ich bin auch spirituell, denn das Gesagte hindert unser Gehirn in keiner Weise daran, Emotionen bei Gedichten, Musik oder Kunstwerken zu erleben, ein Empfinden für das Gute, für Moral und Altruismus zu haben und ein inneres Leben zu führen. Wie André Comte-Sponville 46 sehr gut herausgearbeitet hat, kann ein Atheist sehr spirituell sein, ein Standpunkt, den ich voll und ganz teile. Daher muss man Spiritualität und Materialismus nicht mehr als Gegensätze begreifen. Gewiss lehne ich triviales Verhalten ab und vermeide es. Ich bin also Materialist im philosophischen und wissenschaftlichen Sinn des Wortes, während ich dennoch an der Spiritualität teilhabe, die uns das menschliche Gehirn gestattet.
46 André Comte-Sponville: Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott. Diogenes, Zürich 2009.
Alles, was wir wissen, lehrt uns, dass es eine Chance ist zu leben, oft sogar trotz Krankheit und Behinderung. Ganz gleich, ob wir gläubig, agnostisch oder atheistisch sind, das Wesentliche ist die Art Leben, für die wir uns entscheiden. Das Leben kann erfüllt und ganz sein, wenn wir andere achten, altruistisch sind, fähig sind, zu helfen, zu verstehen und das Leiden anderer zu lindern. Ich denke, dass ich einen mehr oder minder langen Zeitraum überdauern werde, solange die Erinnerung an mich â mein Abdruck â im Geiste einiger Menschen lebendig bleibt. Wir sollten immer das Glück zu leben kultivieren, den gegenwärtigen Augenblick
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