Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
stand jetzt unmittelbar neben dem Tisch: Er hörte, wie ihr beim Umdrehen der Rock an den Beinen streifte. »Wenn du mich hören kannst, dann komm lieber heraus«, sagte sie. Nur die Tatsache, dass sie anscheinend nicht im Dunkeln sehen konnte wie eine Katze oder ein Fuchs, hielt Tyler davon ab, vor Angst loszuschreien. Er biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. »Komm raus, sage ich.« Sie hob die Stimme. »Ich weiß, dass du hier bist. Hör auf mit dem Spiel.«
Steve zitterte auf eine Art, als ob er lautlos weinte. Tyler wusste nicht, was sein Freund machte, aber er hoffte inständig, dass er dabei wenigstens keinen Mucks von sich geben würde. Endlich bewegte sich Mrs. Needle von ihrem Versteck fort.
»Wenn du hier bist und mir nicht antwortest«, sagte sie schließlich, »dann wird es dir noch leid tun, Kingaree. Ich schwöre dir, ich werde dir eine äußerst schmerzhafte Lektion erteilen.« Sie verstummte, als wartete sie auf eine Antwort, dann rauschte sie aus dem Zimmer und zog die Tür fest hinter sich zu. Tyler hörte sie den Flur hinuntergehen und eine andere Tür öffnen.
Er knipste seine Taschenlampe an und dunkelte das Licht mit seinem Hemd ab. Zu seiner Verwunderung hielt Steve, der neben ihm kniete, einen langen Metallstift in der Hand.
»Ich hab mein Messer nicht finden können«, flüsterte er. »Ich hätte sie mit dem Zelthering erstochen.«
»Wenn der nicht aus Silber ist, wird sie dadurch erst richtig fuchtig«, klärte Tyler ihn auf. »Komm, wir müssen hier weg, bevor sie zurückkommt.«
|327| Steve steckte den Hering ein. »Wo gehen wir hin? Nach unten?«
»Spinnst du? Hast du nicht gehört? Sie sucht nach Kingaree. Das ist dieser Sklavenjäger, von dem ich dir erzählt habe. Der rennt hier wahrscheinlich mit einer Knarre rum und schießt wild um sich.«
»Wohin dann?« Plötzlich begriff er. »O nein. Nein, nein, nein!«
»Komm schon, Mann. Willst du hier sitzen, wenn sie zurückkommt?« Tyler zog ihn unter dem Tisch hervor und stieg auf das Marmorwaschbecken.
»Nein!«, sagte Steve und riss sich von Tyler los. »Kommt gar nicht in Frage!«
»Wie du willst.« Ohne zu überlegen, ob es funktionieren würde, warf Tyler sich in den Spiegel, der sich teilte, als ob er aus Quecksilber wäre.
Er landete unsanft am Boden, den Rucksack halb über Schultern und Kopf gekippt, so dass er beim Versuch aufzustehen erst einmal kopfüber fiel. Als er ihn schließlich zurechtgerückt hatte und aufrecht sitzend die Taschenlampe anschaltete, entdeckte er zu seiner Bestürzung, dass er in einem anderen Raum war als bei seinem letzten Gang durch den Spiegel. Erschrocken fragte er sich, ob er diesmal in eine noch unheimlichere und gefährlichere Welt gestürzt war, doch dann erkannte er den Grund: Der Spiegel stand nicht mehr in der Bibliothek, folglich war auf der anderen Seite auch nicht mehr die Kehtoilbib. Stattdessen befand er sich in der Spiegelversion von Mrs. Needles Arbeitszimmer.
Er trat an den Kommodenspiegel und schwenkte seine Taschenlampe davor, damit Steve auf der anderen Seite es sah. »Alles okay, Steve«, rief er, obwohl er bezweifelte, dass sein Freund ihn hören konnte. »Komm schon!« Einige Sekunden |328| später purzelte Steve Carrillo durch die Spiegelfläche und plumpste mit verdrehtem Rucksack und scheppernder Feldflasche und Tasse auf den Boden wie ein Heißluftballon, aus dem man die Luft rausgelassen hatte.
»Los, gehen wir Grace suchen!«, sagte Tyler. »Vielleicht finden wir sie ja so schnell, dass wir zurück sind, ehe drüben das Licht wieder angeht.«
Steve erschauerte. »Ich nicht, Alter. Ich kann gern auf einen zweiten Besuch im Spukland verzichten. Ich werde hier warten.«
Tyler schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee. Wir wissen nicht genug darüber, wie es hier zugeht. Vielleicht finden wir uns nie wieder. Du kommst lieber mit.«
»Scheißkerl.« Steve sagte es mit tiefer Inbrunst.
Der Flur vor Mrs. Needles Spiegelzimmer war leer, aber das beruhigte Tyler nicht sehr. Die echten Bilder an der echten Wand in diesem Teil des Hauses waren schon abartig genug, doch die Bilder in dieser Spiegelversion waren noch bizarrer: Fotos von verlassenen und verfallenden Häusern und steinernen Turmruinen, verblassende Aufnahmen von seltsam gekleideten Leuten aus Zeiten und Ländern, die Tyler völlig unbekannt waren und das auch gern bleiben konnten.
»Igitt!«, sagte Steve und beäugte im Vorbeigehen ein verstaubtes Bild. »Hat die Frau da einen riesigen
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