Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
dunkel, obwohl Lucinda laute Stimmen hören konnte und mehrmaliges Knallen, sei es von Schüssen oder bloß von im Sturm zuschlagenden Fensterläden.
Gideon schüttelte sie abermals ab, packte sie mit seinen knochigen Händen an den Schultern und stieß sie so fest von sich, dass sie auf dem matschigen Boden ausglitt und rückwärts in eine Reihe Maisstengel stürzte. Klatschnass und schlammbeschmiert rappelte sie sich auf, doch als sie ihn erneut fasste und anflehte, doch stehenzubleiben, und er sich zu ihr umdrehte, erkannte sie, dass sie sich ihre Worte sparen konnte. Von den nach oben gerutschten Augen ihres Großonkels war nur noch das Weiße zu sehen, und er fletschte die Zähne wie ein bissiger Hund. Während sie ihn entsetzt anstarrte, schwang Gideon die Arme, und eine seine Hände traf sie seitlich am Kopf und schlug sie abermals nieder.
Benommen lag Lucinda zwischen den abgeknickten Stengeln. So alt er war, für sie war er immer noch zu stark. Und nicht nur das, auch die innere Stimme, die zuvor nur am Rand ihres Bewusstseins gewispert hatte, wurde deutlicher. Sie konnte sie jetzt verstehen, auch wenn es keine Worte waren, nicht einmal klare Gedanken wie von Desta: Es war ein Gefühl, jenseits der Sprache, selbst jenseits des gewohnten Denkens.
Komm. Komm her. Komm jetzt her.
Am erschreckendsten war, wie stark es war, wie sehr Lucinda dieser einfachen, gebieterischen Forderung gehorchen wollte.
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Komm her.
Es war das Treibhaus, erkannte sie – oder vielmehr, es war
im
Treibhaus. Doch noch während sie das begriff, merkte sie auch, dass sie schon längst dabei war, durch die Maisreihen darauf zuzukriechen. Sie wehrte sich gegen die Anziehung und wurde langsamer, aber der völlig davon gefangene Gideon war ihr bereits ein ganzes Stück voraus.
Ich kann auf mich keine Rücksicht nehmen,
dachte sie, ganz benommen von dem Druck in ihrem Kopf,
ich muss Onkel Gideon aufhalten.
Statt gegen den Ruf anzukämpfen, stand sie auf und folgte taumelnd dem Zug, wenigstens einige Schritte weit. Als sie ihren Großonkel eingeholt hatte, schlang sie die Arme um seine Beine und brachte sie beide in dem nassen Garten zu Fall.
Hör auf, dich zu wehren.
Wortlos, aber deutlich zog die Stimme weiter an ihr.
Komm her.
Alles in ihr wollte dem Ruf gehorchen, alles bis auf einen winzigen bewussten Punkt, der immer noch Lucinda und nur Lucinda war. Es war, als schwämme sie im Meer gegen eine starke Rückströmung an. Der schlammige Boden ringsumher wirkte geradezu lebendig, weil so viele verschiedene Tiere, Insekten, Nager, verletzte Vögel, auf das Treibhaus und das, was sie alle rief, zukrochen und -hüpften. Unterdessen strampelte und zappelte Gideon wie ein verwundetes Tier, um irgendwie aufzustehen, und nur weil er nicht bei Verstand war, konnte Lucinda ihn daran hindern.
Das Treibhaus war jetzt nur noch einige Dutzend Meter entfernt. Sie sah es über die windgepeitschten Pflanzen aufragen wie ein Schiff auf stürmischer See. Kratzend und tretend wand sich Gideon unter ihr heraus, in dem Handgemenge wurde sie herumgewälzt und ihr Kopf auf den Boden gedrückt. Lucinda sah sich von Angesicht zu Angesicht einem Ding gegenüber, das einmal ein Kaninchen gewesen, jetzt |337| aber nur noch ein verschrumpelter Hautsack voll kleiner weißer Höcker war, über und über durchbohrt von glatten, weißen, wurmartigen Stengeln, die aus der Erde des Küchengartens emporgesprossen waren. Erst als sie angeekelt zurückfuhr, erkannte sie, dass sie umgeben war von vielen kleinen Tierleichen, eingesponnen in weißes Geflecht.
Der Pilz. Es war tatsächlich ein Pilz, genau wie es in dem Brief aus Madagaskar gestanden hatte, ein Pilz, der auf irgendeine Weise ein Lebewesen befallen und es dann zum Mutterorganismus hinziehen konnte … dem Ding im Treibhaus.
»Hilfe!«, kreischte sie, und die Angst verlieh ihr neue Kraft. Sie klammerte sich verzweifelt an Gideon, als ob sie beide in einen Strudel geraten wären. »Hilfe! So helft mir doch! Es hat Onkel Gideon erwischt!« Der Regen wusch ihr die Tränen ab, bevor sie die Wangen erreichten. »Hört mich denn niemand?«
»Ich habe dich gehört«, sagte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. »Du kannst ihn loslassen.« Starke braune Hände schlossen sich um Gideon und nahmen ihn ihr so mühelos ab, als pflückten sie einen Löwenzahn. Simos Walkwell trug Gideon bis ganz zurück an den Rand des Gartens und legte ihn dort auf den Boden. Er beugte sich vor und schnippte mit dem Finger an Gideon
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