Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
sondern auf sein inneres Gefühl dafür, wo der Spiegel war, ein Gefühl wie ein warmes Leuchten am Rand seines Bewusstseins.
Es kam ihnen so vor, als wären sie eine halbe Stunde gelaufen, |361| als sie auf einmal wieder in die Nähe der Ehcük kamen. Natürlich! Er hatte völlig vergessen, dass der Waschkommodenspiegel ja jetzt woanders stand, in der Spiegelversion von Mrs. Needles Arbeitszimmer. Hieß das, dass sie schon wieder das Revier der Spiegel-Needle betraten? Ihm schauderte, doch dann sagte er sich, dass sie sich vielleicht einen Gefallen damit getan hatten, sie von ihrem Arbeitszimmer wegzulotsen.
Schließlich kamen sie an eine Tür, die sich richtig anfühlte. Tyler schluckte beklommen, als er den Knauf drehte, doch dann seufzte er erleichtert: Es war in der Tat das Spiegelzimmer. Er zog Steve und die weißhaarige Frau hinein, dann schlug er die Tür zu und hielt den Knauf fest. Allein in einem matten Lichtkegel stand der Spiegel da und wartete.
»Los!«, sagte Tyler. »Hilf ihr beim Durchgehen, Steve. Ich halte für alle Fälle die Tür zu.«
Steve half der völlig erschöpften Grace auf die Kommode und schob sie sacht durch ihr eigenes Spiegelbild, dann kletterte er schnaufend hinterher. »Jenkins«, sagte er, »eins muss ich dir noch sagen. Ich –«
»Ich weiß«, sagte Tyler und trat neben ihn. Er hörte draußen im Flur Schritte und eine zornige Stimme verkehrt herum schimpfen. »Ich weiß:
nie wieder.
Bin ich voll mit einverstanden.«
Der Knauf an der Zimmertür drehte sich, und schleunigst warfen sie sich in das durchlässige Glas, erst Steve, dann Tyler direkt hinterher.
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40
MÖHRENMÄDCHEN BÖSE
L ucinda wusste nicht, warum sie Gideon eigentlich immer noch festzuhalten versuchte. Sie war mit ihren Kräften am Ende, während er sich mit unverminderter Heftigkeit wehrte, vom Ruf des Treibhausgiftes vollkommen um den Verstand gebracht. Colin Needle hatte versucht, ihr zu helfen, doch er war gescheitert und hatte sich stattdessen selbst in tödliche Gefahr gebracht. Selbst Simos Walkwell war von dem Ding besiegt worden. Der Einzige, der vielleicht noch etwas ausrichten konnte, war Ragnar, doch der war am anderen Ende der Farm. Es war aussichtslos.
Ja, gib auf,
drängte sie eine Stimme, wenn auch nicht in Worten. Es war allein Lucinda, die die Worte bildete, wie in einem Selbstgespräch, in dem ihre eigene innere Stimme beruhigend |363| und vernünftig auf sie einredete.
Komm her. Werde eins. Mit uns.
Eine Ahnung der Ganzheit lockte sie, eine derart starke Verheißung seligen Dazugehörens, dass es eigentlich gar kein Gefühl mehr war, eher ein wunderbarer Seinzustand, der mit Worten nicht zu beschreiben war.
Komm. Werde eins mit uns!
Möhrenmädchen! Hilfe! Angst!
Die neue Stimme in ihrem Bewusstsein, die der jungen Drachin Desta, versetzte sie schlagartig zurück in sich selbst. Da erst merkte sie, dass ihr Großonkel sich ihr fast entwunden hatte, und sie fasste seinen schlammbeschmierten Bademantel fester.
Desta? Desta, kannst du mich hören?
Aber Lucindas Gedanken schienen wie vom Wind verweht und zerstreut zu werden: Nichts kam zu ihr zurück.
Im Schein des nächsten Blitzes sah es aus, als ob der Regen still in der Luft hinge. Schimmernde weiße Fasern des Monsterpilzes sprossen zu Hunderten rings um das Treibhaus, brachen durch die Erde und streckten sich zum Himmel, als beteten sie das Gewitter an, und gleichzeitig wurde die Hauptmasse des Pilzes mit jedem Moment größer, ging auf wie ein Hefeteig, drückte gegen die schmutzigen Treibhausfenster. Einzelne Scheiben fielen aus ihrem Rahmen oder zersprangen mit derart lautem Knall, dass Lucinda es über den heulenden Sturm hinweg hörte.
Möhrenmädchen!
Wieder die Gedanken der Drachin, schwächer diesmal.
Hilfe! Angst! Böse Tiere!
Der Reptilienstall! Simos hat gesagt, im Reptilienstall wären die Mantikore los!
Die Erinnerung daran war wie ein weiterer schmerzhafter Schlag.
Ach, die arme Desta!
Sie versuchte mit ganzer Kraft, alles andere aus ihren Gedanken zu verdrängen: den geistesgestörten, gewalttätigen Onkel Gideon in ihren Armen, das einem verrottenden Marshmallowhaufen gleiche |364| Ding, das aus dem zerbrechenden Treibhaus herausquoll, den hilflosen Walkwell, Colin Needle …
O Gott, Colin! Er ist an diese Metallstange gefesselt, und es blitzt überall!
… und gegen das ganze wilde Aufbegehren in ihrem Innern richtete sie ihre Gedanken wieder auf die junge Drachin.
Desta?
Es war so furchtbar schwer, sich
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