Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
will hier raus, Tyler«, sagte Steve, der hinter ihm die Treppe hinaufkeuchte. »Ich will echt nach Hause, Mann. Meine Eltern müssen am Ausflippen sein.«
Tyler schüttelte den Kopf, nicht um Steve zu widersprechen, sondern weil er mit Mühe und Not Treppe steigen und Grace ziehen konnte – jetzt noch zu reden hätte ihn überfordert.
Das Zimmer, in das sie nun taumelten, war das sauberste und hellste des Hauses, wenn auch nach gängigen Maßstäben immer noch schummerig und staubig. Etwas daran kam Tyler bekannt vor, obwohl er wusste, dass er noch niemals darin gewesen war. Es war eine Art Wohnzimmer mit Sesseln, kleinen Tischen und Sideboards. Auf jeder freien Oberfläche standen gerahmte Fotografien, bestimmt über hundert, und als er in die Zimmermitte trat, erkannte er, dass sie alle ein und dieselbe Frau zeigten, das Gesicht immer verschattet, doch die schlanke, aufrechte Gestalt und die elegante Haltung in jeder Ablichtung gut zu erkennen, einerlei, wie absonderlich alles andere auf den Bildern war.
Es ist wie dieses Zimmer, von dem mir Lucinda erzählt hat,
sagte er sich.
Das Zimmer im richtigen Haus, wo die ganzen Bilder von Grace hängen – den »Grace-Tempel« nennt es Luce.
|359| Er beobachtete, wie die leibhaftige Grace zwischen den Möbeln hindurchging, ohne auf die verblassten Fotos zu achten, und fragte sich, warum sie ihr so wenig bedeuteten.
Da ertönte ein Kreischen.
Der Schrei war so laut und schrill, dass Tyler im ersten Schreck dachte, einer der Schattenvögel, die er vor den Saalfenstern gesehen hatte, sei ins Haus eingedrungen und flöge hinter ihnen her.
»Rettum ust mock!«,
schrie es.
»Stasch, rettum ust mock!«
Tyler und Steve sahen sich ratlos und betroffen an, doch am heftigsten reagierte Grace. Sie wimmerte vor Furcht und stolperte gegen einen der Tische, so dass die Bilder darauf herunterfielen.
»Das ist sie«, stöhnte sie. »Die weiße Frau! Jetzt fängt sie uns ganz bestimmt!«
Etwas Schwergewichtiges, Schwerfälliges bewegte sich schleppend und rumpelnd auf sie zu. Dann gingen im Flur vor dem Fotozimmer Lichter an, die heller waren als die flackernden Glühbirnen im Rest des Hauses.
»Nilock!«,
schrie es, und seine Stimme wurde härter und spitzer.
»Nilock, ud zib ow?«
»O Mann, es redet rückwärts!«, sagte Steve.
»Nilock, Nilock
– es ruft nach Colin.«
»Ud zib ow, Nilock?«,
heulte die Stimme, und etwas krachte gegen eine Wand und zerbrach.
Jetzt wusste Tyler, wer es war, wenn auch nicht,
was
es war. Er wusste auch, dass ihnen angesichts der sekündlich lauter werdenden, grauenhaften Laute nur eine Hoffnung blieb. »Lauft!«, schrie er. »Wieder die Treppe runter!« Er gab Steve einen Stoß in den Rücken. »Schnell!«
Während sie die Treppe hinunterjagten, hielt Tyler Grace, so gut er konnte. Ihre Beine bewegten sich weiter, aber sie |360| schien kaum bei Bewusstsein zu sein und brabbelte vor sich hin, als versuchte sie, aus einem schrecklichen Albtraum aufzuwachen.
Am Fuß der verwinkelten Treppe geriet Steve ins Stolpern und fiel hin, stand aber sofort wieder auf. »Wohin?«, schrie er.
Welche Tür war die linke gewesen? Sie blickten jetzt in die andere Richtung, also musste es die rechte sein. »Dorthin, los!« Tyler hätte sich in den Hintern beißen können: Statt seinen Instinkten zu vertrauen, hatte er getan, was jeder andere getan hätte, er, Tyler Jenkins, Erforscher der Verwerfungsspalte und Entdecker der Spiegelwelt, und die Sache war beinahe tödlich ausgegangen.
Und das,
dachte er, während er Grace hinter Steve herschleifte,
könnte sie immer noch.
Sie hasteten durch den Saal auf die Tür zu, als eine große, gekrümmte Gestalt mit langen, fuchtelnden Armen hinter ihnen die Treppe herunterkam, in wallendes Weiß gehüllt wie eine missgebildete Braut. Wo die Augen hätten sein sollen, strahlten zwei Lichter so hell, dass das Gesicht hinter dem grellen Schein nicht zu erkennen war. Sie strichen die Wände des großen Saals ab, bis sie auf Tyler und Steve fielen.
»Iis ehes chi!«,
rief sie.
»Nilock, laasllab mi!«
Tyler stürzte zur Tür hinaus und hoffte inständig, dass sie nicht auch noch dem Spiegel-Colin begegnen würden.
Sie liefen und liefen. Eine Zeitlang hörten sie die Spiegel-Needle hinter sich herrumpeln, dann hörten sie nur noch das gellende Kreischen ihrer Stimme, und schließlich auch das nicht mehr. Tyler hatte inzwischen die Augen fast ganz geschlossen und verließ sich nicht mehr auf seine äußere Orientierung,
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