Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
Standard Valley kennengelernt, auf einer von Walkwells Einkaufsfahrten, und sie hatten sich angefreundet. Sie fand es ein bisschen seltsam, dass sie schon so lange wieder auf der Farm waren und noch gar nichts von Carmen und den anderen gehört hatten. Sie und Tyler sollten irgendwie mit ihnen Kontakt aufnehmen.
Walkwell war immer noch dabei, dem verdatterten Verkäufer die Gefahren der Dampfkraft auszumalen, als Lucinda schließlich der Geduldsfaden riss und sie in die heiße Nachtmittagsluft |86| hinaustrat. Es roch nach Regen, doch noch war es trocken. Sie überlegte kurz, ob sie Colin Gesellschaft leisten sollte, hatte dann aber doch Bedenken: Wenn er nun dachte, sie wäre in ihn verknallt? Denn obwohl er sich hin und wieder fast wie ein Mensch verhielt,
das
war sie auf keinen Fall.
Lieber machte sie einen kurzen Spaziergang Richtung Stadtrand. Sie ging an den paar Läden und dem Bahnhof vorbei, und bald waren links und rechts nur noch Holzhäuser mit umzäunten Vorgärtchen zu sehen.
Als Lucinda vor den letzten Häuschen umkehrte und sich auf den Rückweg machte, trat ein großer Mann aus dem Schatten des Bahnhofsgebäudes, und als sie vorbeikam, steuerte er mit langen Schritten schräg auf sie zu. Nach wenigen Häusern ging der Fremde neben ihr.
»Immer langsam, Mädchen«, sagte er. »Bleib stehen, ich will kurz mit dir reden.«
Sämtliche Instinkte forderten Lucinda auf, wegzulaufen. Nur die Tatsache, dass sie am helllichten Tag mitten auf der Hauptstraße standen und vom Lokal aus Leute zu ihnen hinübersahen, gab ihr den Mut, standhaft zu bleiben. Der baumlange Fremde musste knapp zwei Meter groß sein, und obwohl er die körperliche Geschmeidigkeit eines jungen Mannes besaß, war sein Gesicht wettergegerbt und runzlig wie altes Leder. Er hatte schwarze Haare, und schwarz waren auch seine Kleider und sein breitkrempiger Hut. Er wirkte eher wie ein Revolverheld aus einem Western als wie ein Farmer. Als hätte er sich im Jahrhundert geirrt …
Die jähe Erkenntnis würgte sie mit eiskalten Fingern: Dieser Mann sah tatsächlich wie jemand aus einer anderen Zeit aus – wie jemand, der aus der Verwerfungsspalte gekommen war. Auf einmal hatte sie Angst.
»Ich habe dich und Simos Walkwell in die Stadt kommen |87| sehen«, sagte der Fremde in breitem, selbstsicherem Ton. »Wohnst du draußen auf der Tinkerfarm? Gideon Goldring ist ein alter Freund von mir.«
Lucinda konnte nur hilflos und stumm den Mund bewegen.
»Du musst keine Angst vor mir haben, Kleine.« Er bleckte die Zähne. »Ich bin nicht dein Feind.«
Es fiel ihr schwer, den Kloß in ihrem Hals so weit hinunterzuschlucken, dass sie wieder sprechen konnte. Es war beinahe, als ob dieser Mann einfach aus dem Staub und der Sommerhitze des Tages entstanden wäre. »T-tut mir leid, aber ich soll nicht mit Leuten sprechen, die ich nicht kenne.«
»Natürlich nicht«, sagte er. »Kluges Mädchen. Aber ich bin kein Fremder – frag einfach Gideon und die andern. Sag ihnen, du hättest Jackson Kingaree getroffen. Du kannst ihnen ausrichten, ich käme bald mal vorbei, um in alten Zeiten zu schwelgen. Kannst du dir das merken?«
Lucinda nickte.
Der große Mann beugte sich vor. Sein Atem roch nach Alkohol. Sein Lächeln wirkte andressiert, als hätte er es gelernt wie ein Hund das Pfötchengeben, ohne es zu verstehen. »Das hört man doch gern. Wir sprechen uns eines Tages wieder, du und ich. Versprochen.« Als er sich aufrichtete und an ihr vorbeiging, streifte sein Mantel ihre Hand so leicht wie ein Vogelflügel. Mit klackenden Stiefeln ging er den Bürgersteig entlang, bog um eine Ecke und verschwand. Lucinda blieb stehen und starrte ihm nach. Ein paar Regentropfen fielen auf ihr Gesicht und ihre Hände und hinterließen dunkle Flecken auf der Straße.
Lucinda hatte so lange die Luft angehalten, dass ihr ganz schwindlig war. Nun atmete sie aus und lief los.
|88| »Komm diesem Mann niemals zu nahe! Niemals!« Walkwell war so aufgeregt, dass er fast seine Kaffeetasse umstieß. Alle Gäste in
Rosie’s
drehten sich nach ihnen um.
»Er hat mich auf der Straße angesprochen.«
»Wenn du ihn das nächste Mal siehst, sprich nicht mit ihm. Lauf weg. Er ist böse.« Der Alte gab ein Knurren von sich, das erschreckend wenig menschlich klang.
Für einen Sekundenbruchteil sah Lucinda das Bild von Simos Walkwell wieder vor sich, wie er auf nackten Hufen unter dem nächtlichen Himmel über einen Berghang getanzt war, ein wildes Geschöpf aus früheren
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