Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
zurückerobert hatte.
|172| Lucinda brauchte eine Weile, um die Rosensträucher zu finden, an die sie gedacht hatte, denn genau wie im Haus konnte man sich auch im Garten sehr leicht verirren. Schließlich jedoch erspähte sie die Rosen an einem Holzzaun ungefähr zehn oder elf Beete vor dem alten Treibhaus. Es kam Lucinda ein bisschen merkwürdig vor, dass sie einerseits völlig ungepflegt aussahen, die Stengel kreuz und quer ineinandergeschlungen und viele der Blüten braun und welk, und andererseits von der Rosenlaube ein Geruch ausging, als ob jemand dort frischen Dünger ausgebracht hätte, ein derart beißender Gestank, dass sie sich am liebsten die Nase zugehalten hätte. Tapfer schritt sie das Rosenbeet ab und schnitt sich einen Armvoll frisch erblühter Blumen, als sie auf etwas unangenehm Weiches trat.
Sie traute sich kaum, den Fuß zu heben, weil sie befürchtete, sie wäre auf eine Schnecke oder in einen Tierhaufen getreten. Doch als sie schließlich ihren Mut zusammennahm und nachschaute, war es noch schlimmer: Sie war auf eine tote Maus getreten.
Nur dass die sich noch bewegte.
Mit einem entsetzten Aufschrei sprang Lucinda zurück. Die Beine der sterbenden Maus ruderten schwach, als versuchte sie zu schwimmen, dann wurden ihre Bewegungen langsamer und hörten schließlich ganz auf.
Aus sicherer Entfernung starrte sie auf das Tier. Seit wann bewegte sich eine Maus so langsam, dass ein Mensch auf sie treten konnte? Wenn sie nun Tollwut gehabt hatte? Allein bei dem Gedanken kringelten sich Lucinda die Zehen. Sie riss sich den Schuh vom Fuß und kratzte ihn an einem Zaunpfosten ab, bis sie sich fast übergab, dann schlug sie die Sohle auf die Erde, um sicherzugehen, dass auch das letzte bisschen Maus beseitigt war. Plötzlich sah sie sich in einer Wolke unsichtbarer |173| Tollwuterreger stehen. Hieß es nicht, dass das unheilbar war? Oder war das was anderes gewesen? Was würde ihre Mutter sagen? Musste sie nun etwa eine Tollwutspritze bekommen? Eine Freundin in der Schule hatte ihr erzählt, dass man die direkt in den Bauch bekam!
Sie zuckte zusammen, als sie unerwartet Stimmen hörte, doch es waren nur Pema und Azinza, die sich lachend Gemüse aus dem Küchengarten holten. Sie besah sich noch einmal die tote Maus, und eine furchtbare Sekunde lang meinte sie, diese bewegte sich wieder – eine unsterbliche Zombiemaus! –, doch dann erkannte sie, dass es Flöhe und anderes Ungeziefer waren, die den Kadaver verließen.
»Widerlich«, sagte sie. Auch ein Weberknecht marschierte davon – der konnte doch nicht an der Maus gewesen sein. Aber nicht nur der: Viele verschiedene Insekten krabbelten und hüpften alle in dieselbe Richtung, wie eine Zwergenparade. Angeekelt und doch fasziniert beugte sich Lucinda ein wenig vor und folgte dem Zug ein Stück, bemüht, nicht darauf zu treten. Mehrere Kugelasseln schlossen sich an. Es sah langsam aus wie eine Ungezieferdemo. Sie stupste eine der Asseln mit einem Stöckchen an, und diese rollte sich zu einer Kugel zusammen, bis Lucinda aufhörte, zockelte dann aber sofort wieder hinter den anderen her zum hinteren Ende des Gartens.
Sie folgte der kleinen Prozession noch etliche Meter, auf denen sich weitere Züge von Käfern, Spinnen, Asseln und anderem Kleingetier dazugesellten. Dabei entdeckte sie, dass dieser Strom nicht der einzige war, sondern dass sich mehrere durch die verwilderten Beete schlängelten, alle, schien es, in dieselbe Richtung. Lucinda wünschte sich langsam, sie hätte Tyler dabei oder sogar Colin Needle, doch beide Jungen hatten das Haus schon vor Stunden verlassen.
Nur wenige Zentimeter neben dem kleinen Zug, dem sie |174| folgte, sah sie einen Klumpen liegen.
Igitt,
dachte sie,
ein toter Vogel. Aber sie gehen einfach alle dran vorbei! Fressen Käfer nicht tote Tiere und sowas? Wo wollen die alle hin?
Sie richtete sich auf und ging noch ein Stück, bis sie erkannte, wo sämtliche Insektenmärsche anscheinend zusammenliefen: in dem alten Treibhaus, das aus der Wildnis emporragte wie ein Fels aus der Brandung. Mit seinem hohen Spitzdach und den vielen Scheiben glich es fast einer verlassenen Kirche. Das vormals grüne Eisengestell, das die Scheiben hielt, war seit langem nur noch ein gespenstisches Rostgerippe, bis auf das Dach und die zierende Wetterfahne, die beide schwarz verbrannt waren. An manchen Stellen waren die Stangen sogar geschmolzen und hingen durch. Es sah fast so aus, als hätte es auch hier einen Brand gegeben, ähnlich dem
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