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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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und starrte ins Dunkle. «Ich habe ihn umgebracht. Es war schrecklich. In dem Moment … danach …»
    Als Michael nach längerem Schweigen neu ansetzte, war seine Stimme wieder ein wenig fester.
    «Ich habe einen Krankenwagen gerufen, Slobas Leiche über die Klippe geworfen und dafür gesorgt, dass er nicht auf die Brücke fällt. Dann sah ich den Krankenwagen kommen und habe mich aus dem Staub gemacht. Das war für mich das Schlimmste, Abby, dich allein zurückzulassen. Es ist mir schwerer gefallen als der Mord an diesem Mann.»
    «Und die Leiche, die gefunden wurde? Jenny, deine Schwester, hat dich identifiziert. War sie eingeweiht?»
    «Ich hätte nicht im Traum damit gerechnet, dass sie Sloba für mich halten. Du lagst im Koma und warst von Polizisten abgeschirmt. Also rief ich Jenny an, weil sie die einzige Person war, der ich vertrauen konnte. Sie sagte, man habe sie aufgefordert, nach Montenegro zu fliegen, um eine Leiche zu identifizieren, und ich erklärte ihr, was zu tun sei. Wer für tot gehalten wird, muss keine lästigen Fragen beantworten. Es war einfacher so.»
    «Einfacher?» Schock, Schmerz und Verrat, die so lange in ihr geschwelt hatten, flammten plötzlich in ihr auf. «Einfacher, mich denken zu lassen, du wärst tot? Einfacher, mich durch halb Europa zu hetzen, in ständiger Angst, dass man auch mich töten wollte, ohne zu wissen, warum? Das nennst du einfacher?»
    Michael legte die Hände vor sein Gesicht. «Es tut mir so leid.»
    «Du hast mich da in etwas reingezogen, was ich nie gewollt hätte.»
    «Ich weiß. Ich kann dich nur um Entschuldigung bitten, bin dir eine Erklärung schuldig – und vieles mehr.» Er hob den Kopf in der Hoffnung, dass sie ihm verzeihen würde. «Dragović war hinter dir her. Er ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte. Zum einen war da die Tatsache, dass Slobas Leiche nirgends auftauchte. Vielleicht wurde ihm auch zugetragen, dass man mich gesehen hat. In diesem Teil der Welt geschieht nur wenig, das ihm nicht zur Kenntnis gebracht wird. Und er dachte wahrscheinlich, dass ich ihm etwas vorenthalte.»
    Er wartete auf eine Reaktion von ihr. Sie spürte, dass es richtiger wäre zu schweigen, war auch noch nicht bereit, von ihrer Wut abzulassen, hörte sich aber dann doch sagen: «Und die Schriftrolle?»
    Michaels Augen leuchteten auf. «Du hast sie gefunden?»
    «Ich war in Trier und habe mit Dr. Gruber gesprochen.»
    «Hat er den Text entschlüsselt?»
    «Nur einen Teil.» Sie versuchte, sich zu erinnern, und zuckte zusammen, als ihr klar wurde, dass das gar nicht nötig war. Sie klopfte auf ihre Jeanstasche. Das zusammengefaltete Stück Papier, das Gruber ihr gegeben hatte, drückte als ein vom Regen aufgeweichter Klumpen auf ihren Schenkel.
    Sie holte es hervor, faltete es vorsichtig auseinander und las das Gedicht. Die Lebenden erreicht, wer die Toten navigiert. Aus ihrem Mund klangen die Worte noch seltsamer. Sie war durch eine Welt navigiert, in der sie Michael für tot gehalten hatte. Nun stand er vor ihr, lebendig und atmend.
    «Weißt du, was das bedeuten soll?»
    «Keine Ahnung», antwortete Michael. «Jedenfalls konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass so etwas verloren geht, weil ich es Dragović gegeben habe. Ich fand, die Sache war es wert, zurückgehalten zu werden, für einen zweiten Versuch. Auf Dr. Gruber kam ich über das Internet. Ich suchte ihn auf, denn wenn ich die Schriftrolle am Ende verloren hätte, wollte ich wenigstens sicherstellen, dass das, was darauf geschrieben steht, erhalten bleibt. Dragović verfolgt seine eigenen Interessen; er glaubt, dass mehr dahinterstecken könnte.»
    Abby schob Michael den Teller zu und nippte an dem Schnaps. Er brannte auf ihrer Zunge – immerhin eine echte Empfindung.
    «Und was hast du jetzt vor?»
    «Ich will Dragović zur Strecke bringen. Keine Ahnung, was er im Schilde führt, aber er hat dafür halb Europa auf den Kopf gestellt. Er ist völlig unberechenbar.»
    So wie du, dachte Abby.
    «Er tritt selbst in Aktion und verstößt damit gegen seine eigenen Regeln. Er macht sich verwundbar. Wenn wir vor ihm an das herankommen, worauf er es abgesehen hat, was immer es sein mag …»
    «Er wird dich fertigmachen.»
    «Nicht, wenn wir vorsichtig sind.»
    Wir. Er sagte das zum zweiten Mal, und es klang völlig natürlich, fast unausweichlich.
    «Du», betonte sie. «Du warst schon tot – und hättest mich fast über die Klinge springen lassen. Falls du dir in den Kopf gesetzt haben solltest, dich an

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