Die Geheimnisse der Toten
Dragović zu rächen, darfst du mit mir nicht rechnen.»
Michael nickte. «Klar. Ich dachte nur – verzeih. Und was wirst du jetzt machen?»
Die Frage, so schlicht sie auch gestellt war, löste blankes Entsetzen in ihr aus. Was mache ich jetzt? Zurückkehren in eine kalte Wohnung in Clapham, die sie Tag für Tag mit einer gescheiterten Ehe konfrontierte? Zurück an einen Schreibtisch im Auswärtigen Amt, falls man sie nach all den Vorkommnissen denn jemals wieder ins Haus lassen würde?
Sie war am Ende. Michael sah es ihr an. «Auf dem Balkan kannst du nicht bleiben. Dragović kontrolliert jede Straßenecke zwischen Wien und Istanbul. Er würde dich hier aufspüren.»
«Werde ich den Rest meines Lebens aus Angst vor Verfolgung immer wieder über die Schulter blicken müssen?»
«Was sollte dich schützen? Wenn du in Schwierigkeiten bist, kommt nicht gleich ein NATO-Hubschrauber zu Hilfe. Die EU? Die britische Regierung?»
Als Antwort fiel ihr nur das Bild von Jessop ein, der tot vor ihr im Schmutz lag.
«Warum hast du zehn Jahre deines Lebens in Wüsten und Urwäldern verbracht? Um Leuten wie Dragović das Handwerk zu legen, oder?»
Abby blickte auf ihre Hände. «Ich habe es längst aufgegeben, die Welt retten zu wollen.»
«Das geht nicht.» Michael beugte sich nach vorn, ein Schatten im Dunkel. «Dieser alte Römer in der Grabkammer – weißt du, was ihn an diesen gottverlassenen Ort verschlagen hat? Er patrouillierte die Grenzen der Zivilisation, um Barbaren abzuwehren. Das Gleiche müssen wir tun, Abby. Denn wenn wir nicht aufpassen, stehen sie uns bald auf den Füßen. Sieh dich nur um in Jugoslawien oder Ruanda oder denk an Deutschland in den dreißiger Jahren. Du wohnst in einem friedlichen Land mit breiter Mittelschicht und wäschst am Sonntagnachmittag deinen Wagen, und von einem Tag auf den anderen fällst du mit einer Machete über deinen Nachbarn her oder pumpst ihn voll mit Zyklon B.»
«Was willst du mir damit sagen? Dass die Geschichte, in die du verwickelt bist, irgendetwas mit der Bekämpfung von Nazis zu tun hat?»
«Ich sage nur bitte . Hilf mir. Mir zuliebe, Irina, und all den anderen guten Menschen zuliebe, die leiden mussten, weil ein Scheißkerl wie Dragović glaubt, niemand könne ihn aufhalten. Und tu’s auch für dich. Bevor er nicht hinter Gittern sitzt, bist du in Gefahr.»
Michael kratzte mit dem Messer die Dose aus, was sich anhörte, als würde es geschärft.
Sie brauchte mehr Zeit. Ihr schwirrte der Kopf angesichts möglicher Alternativen und ihrer jeweiligen Konsequenzen. Sie fand keine Antwort und kehrte stattdessen im Geiste an einige der profanen Orte ihrer Auslandseinsätze zurück: ein Lagerhaus in Bosnien, eine Technische Schule in Ruanda. Orte, die von der internationalen Gemeinschaft als sicher erklärt worden waren. Tausende hatten sich darauf verlassen und all ihre Hoffnung dareingesetzt, die letztlich betrogen wurde und in einem Massengrab endete.
«Was wirst du jetzt unternehmen?», fragte sie, um Zeit zu gewinnen.
«In Belgrad wohnt ein Mann, der sich auf solche Sachen versteht», antwortete Michael. «Ich habe ein paar Fotos von der Grabkammer gemacht. Die will ich ihm zeigen. Mal sehen, was er dazu meint.»
Und schon während er dies sagte, wusste sie, dass sie ihn nach Belgrad begleiten würde – und danach, wohin auch immer diese verrückte Jagd führen würde. Nicht, um die Welt zu retten, auch nicht Michael zuliebe oder aus Rache, sondern weil ihr nur diese eine Wahl blieb: abzuwarten oder in Aktion zu treten. Und sie hatte keine Lust mehr zu warten.
Michael drehte den Gashahn aus. Die Flamme verlosch.
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Konstantinopel – Mai 337
Vor Sonnenaufgang ist es selbst im Mai noch kalt. Konstantinopel liegt in Schatten gehüllt. Schritte hallen von den leeren Kolonnaden wider, die Standbilder scheinen lebendig zu werden. Hoch über dem Forum blickt Konstantin von einer Säule auf mich herab, dreißig Fuß groß und aus purem Gold, unbekleidet und mit einer Strahlenkrone auf dem Haupt, die das erste Licht der Dämmerung einfängt. Er hält einen Speer in der einen Hand, in der anderen die Weltkugel. In einer einzigen Nacht haben die Handwerker das Standbild auf die Säule gesetzt, sodass es am nächsten Morgen, als die Sonne aufging, so schien, als sei Konstantin vom Himmel herniedergefahren. Wie ich hörte, waren die Christen sehr empört.
Die Stadt liegt wie verlassen. Konstantin ist vor drei Tagen zu seinem Feldzug
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