Die Geheimnisse der Toten
gefährlich werden, wenn wir uns aus den Augen verlieren.»
Sie setzten die Helme auf und zogen sich die Westen über. Lusetti öffnete eine Seitentür und legte einen Lichtschalter um. Eine nackte Glühbirne beleuchtete einen steinernen Treppengang.
«Sind wir hier richtig?», fragte Mark, unsicher geworden, weil die Treppe so unspektakulär aussah wie der Einstieg in den Keller eines viktorianischen Wohnhauses.
«Ja.»
«Gibt es noch einen anderen Zugang?»
«Nein, zumindest keinen offiziellen.»
«Einen inoffiziellen denn?»
«Die Stadt ist uralt.» Lusetti zuckte mit den Achseln. «Jeder Hausbewohner, der in seinem Keller gräbt, wird auf Hohlräume, alte Steinbrüche oder verschüttete Stollen stoßen. Vor nicht allzu langer Zeit wurde unter der Via Latina eine bislang unbekannte Katakombe entdeckt.»
Lusetti ging voran. Mark, Abby und Barry folgten ihm ins Dunkel.
Konstantinopel – Juni 337
«Ich erzähle dir jetzt etwas über die dunkelsten Orte dieser Welt.»
In der Kammer unter Konstantins Mausoleum herrscht absolute Finsternis. Meine Entführer stoßen mich auf eine Steinbank. Sie lassen zwar von mir ab, aber ich spüre sie in Reichweite vor mir lauern, bereit, zuzugreifen, sobald ich zu fliehen versuche.
Wohin geht es jetzt mit mir? Was soll ich sagen?
Ich kann mich in diesem Raum nur auf meine Ohren verlassen und lausche der Geschichte des Porfyrius.
«Vor dreißig Jahren, während der Christenverfolgungen, schickte mich Symmachus auf eine Mission nach Caesarea in Palästina. Für einen Zeloten wie mich war dieser Auftrag, der mich ins Mutterland der christlichen Religion bringen sollte, ein großer Schritt voran.
Ich mietete dort einen Keller an, der diesem hier nicht unähnlich war, und verwandelte ihn in ein Verlies für Abtrünnige, sei es einen Magistrat, der sich weigerte, unseren Göttern zu opfern, oder eine Frau, die sonntags nicht aus ihrem Haus kam.
Eines Tages – es war Winter – schnappten meine Ermittler ein Gerücht auf: Ein Christ halte sich im Haus eines gewissen Händlers versteckt. Sie durchsuchten es, fanden aber nichts. Dann bemerkten sie, dass das Haus nicht geheizt war. Sie machten Feuer im Kamin und warteten. Bald hörten sie Geräusche im Hippocaustum. Der Christ hatte sich in der Fußbodenheizung verkrochen. Als meine Männer die Einstiegsluke im Fußboden aufklappten, weigerte er sich herauszukommen und versuchte stattdessen, in dem von ihnen geschürten Feuer ein Manuskript zu verbrennen. Natürlich waren sie neugierig. Sie ergriffen den Christen mitsamt seinem Manuskript und brachten ihn zu mir.
Er schwieg beharrlich. Ich probierte an ihm jedes Werkzeug aus, das ihm die Zunge lösen mochte, spielte ihm jedoch nur in die Hand. Er wollte als Märtyrer sterben. Das Manuskript aber …» Porfyrius seufzt wie unter einer schweren Last. «Das Manuskript erzählte eine außergewöhnliche Geschichte. Du weißt vielleicht, dass der Christengott Jesus Christus zur Zeit der Herrschaft von Tiberius Augustus ans Kreuz geschlagen wurde, nicht wahr?»
Ja, ich weiß. In einer seiner ersten Reformen hat Konstantin die Todesstrafe durch das Kreuz verboten, weil er Anstoß daran nahm.
«Als Christus beigesetzt wurde, bewahrten seine Anhänger in ihrer Trauer um ihn das Holz auf, an das man ihn geschlagen hatte. Als er von den Toten wiederauferstand, wurden sie gewahr, dass diesem Holz eine außerordentliche Kraft innewohnte; es war eine Waffe, die einen Gott getötet hatte. Sie hielten es an einem geheimen Ort versteckt, von dem nur ganz wenige wussten, und das über elf Generationen hinweg. In dem Manuskript sind sie aufgelistet. Lies. Übrigens, man hätte leicht erraten können, wo das Holz versteckt lag.»
«Hast du es gefunden?»
«Nein. Was ich damals in Caesarea tat, blieb nicht unbemerkt, und Symmachus rief mich nach Nikomedia zurück. Da jetzt alle Christen von den kaiserlichen Ämtern verdrängt waren, gab es jede Menge Aufstiegsmöglichkeiten. Doch die Sache mit dem Kreuz ist mir nie aus dem Sinn gegangen. Noch Jahre später im Exil ließ ich mir dieses Rätsel immer wieder durch den Kopf gehen, und ich fragte mich, ob ich vielleicht mit seiner Hilfe nach Rom zurückkehren könnte. Ich ließ Konstantin ein paar meiner Gedichte zukommen, in der Hoffnung, ihn zu beeindrucken, doch er erteilte mir eine Abfuhr nach der anderen. Dann kam mir zu Ohren, was Crispus widerfahren war.»
In der Dunkelheit regt sich etwas wie ein Monstrum aus der alten Welt, das an die
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