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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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entdeckte sie jetzt auch den Deckel, der davorlehnte, und weiße Kratzspuren auf dem Stein, die wahrscheinlich von Michael und Sanchez hinterlassen worden waren, als sie den Deckel aufgestemmt hatten.
    Sie nahm den Daumen vom Feuerzeug, um sich nicht zu verraten, und setzte sich im Dunkeln auf den Boden. Ihre feuchten Sachen waren kälter als der Tod. Sie zitterte, wovon sie aber kaum Kenntnis nahm. Das Feuerzeug mit der Hand umklammert, nahm sie dessen Restwärme auf.
    Sie dachte an das Skelett, das in dem Sarkophag gelegen hatte, und fragte sich, ob dieses Grabmal womöglich auch ihre sterblichen Überreste aufnehmen würde. Leben gegen Leben, Leiche gegen Leiche. Sie erinnerte sich an Shai Levin. Er wurde regelrecht aufgespießt. Kaum vorstellbar, dass in diese Kammer ein Mann gehörte, der einmal gelebt und geatmet hatte wie sie. Wahrscheinlich vermögend. Viel Gewalt erlebt. Ein Mann, der sich in diese Grabkammer hatte legen lassen, um für die Nachwelt erhalten zu bleiben, wohl aber nicht damit gerechnet hatte, dass sie siebzehn Jahrhunderte später in einem entlegenen Winkel eines umkämpften Landes liegen würde.
    Von draußen waren Geräusche zu hören. Rufe, rutschende Steine. Sie hob den Kopf. Ein dumpfer Knall hallte durch den Schacht, und sie ahnte, dass wieder jemand gestorben war.
    Das Licht, das durch den Einstieg fiel, nahm weiter ab.
    Es gab nirgends ein Versteck für Abby. Wenn auch sie sterben musste, würde sie den Mörder zwingen, ihr ins Gesicht zu blicken. Schritte schlichen langsam und vorsichtig heran. Sie zündete das Feuerzeug an. Götter und Helden blickten gespenstisch von den Wänden auf sie herab und schienen sie zu sich rufen zu wollen. Der Mann im Schacht – war es ein Mann? – kam näher. Noch war er von Dunkelheit umhüllt, diesseits des Tageslichts und vor ihrer Flamme. Der Wind blies ihr seinen Duft entgegen und Gerüche von Laub und feuchter Erde.
    Er trat in die Kammer. Der schwache Widerschein der Flamme flackerte über sein Gesicht. Schatten schluckten seine Wangen. Sie sah nur den Schädel und lockiges graues Haar, das nass auf der Kopfhaut klebte.
    Sie riss die Augen auf, hörte sich von den Göttern lachend gerufen. Überzeugt davon, hier und jetzt sterben zu müssen, hob sie das Feuerzeug. Die Schatten fielen von ihm ab.
    «Michael?»

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    26
    Konstantinopel – April 337
    «Dachtest du wirklich, ich würde dich ziehen lassen, ohne dir vorher Lebwohl zu sagen?»
    In einer leeren Grabkammer beugt sich Konstantin über einen nicht geweihten Altar und schaut mir in die Augen. Das letzte Mal, als ich ihn sah, war er wie ein Gott gekleidet; jetzt trägt er ein schlichtes weißes Gewand, darüber einen grauen Umhang zum Schutz vor der Kühle des Abends. Dass er kostbar ist, verrät nur die feine Webart.
    «Ich dachte, du hättest mich abgeschrieben.»
    Ein Dutzend Götter hat hier gewohnt. Jetzt ist es nur noch einer. Auf dem Gipfel der höchsten Erhebung der Stadt hat Konstantin den alten Zwölfgötter-Tempel schleifen und auf dessen Fundament sein Mausoleum errichten lassen. Es ist sein zweiter Versuch – das erste in Rom ist bereits besetzt. Von außen sieht es nicht anders aus als die Gedenkstätten, die seine einstigen Mitkaiser für sich bauen ließen, Maxentius in Rom, Galerius in Thessaloniki, Diokletian in Split. Ein Rundturm überragt einen quadratischen Platz, der von Säulenhallen umgeben ist. Darin sind Waschräume, Lampenläden und priesterliches Gerät untergebracht, die gebraucht werden, wenn der neue Bewohner für immer einzieht. Und er wird nicht allein sein. In der Rotunde befinden sich sieben Nischen. Eine davon ist für Konstantins Sarkophag bestimmt; in den anderen stehen steinerne Bildnisse der zwölf Apostel Christi. Typisch Konstantin. Er hat die zwölf alten Götter vom Sockel geholt und ersetzt sie durch christliche Apostel – Gleiches gegen Gleiches, Stein gegen Stein. Wenn er mit seinem Projekt fertig ist, wird keine Fuge zu erkennen sein.
    Die Götter ziehen sich zurück und überlassen die Welt den Menschen. Das ist der Gang der Dinge.
    Aber noch ist der Bau nicht vollendet. Vor der Ostwand steht ein Gerüst, und über den Skulpturen hängen Tücher, damit sie nicht einstauben. Auch das ist typisch für Konstantin: große Werke im Aufbau begriffen. Der ganze Raum ist ein riesiges Gefäß voller Staub. Durch das farbige Glas der Fenster scheint die Abendsonne und malt Muster in die Luft.
    «Als wir das Urteil über

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