Die Geheimnisse der Toten
Geschichte.»
Seine Hand war kalt, aber sein Atem streifte warm ihre Wange. Er roch nach Rauch und Schmutz, aber sie nahm auch seinen eigentlichen Duft war, kräftig und mild wie Whiskey an einem Winterabend. Mehr als alles andere überzeugte sie dieser Duft davon, dass er tatsächlich vor ihr hockte.
«Im Nachbartal gibt es eine Hütte. Dragović weiß davon nichts. Seit ein paar Tagen wohne ich darin.»
Sie starrte ihn entgeistert an. Freude, Erleichterung, Wut – all das würde vielleicht später einsetzen. Jetzt empfand sie nur Schmerz.
Michael legte ihr beide Hände an die Wangen und schaute ihr in die Augen.
«Ich habe dich sehnsüchtig erwartet.»
Sie verließen die Grabkammer und eilten durch den Wald – Michael voraus. Abby hatte Mühe, Schritt zu halten. Der Hubschrauber schwebte immer noch in der Luft, war aber durch das dichte Laubdach nicht auszumachen. Immer wieder hallten Schüsse aus automatischen Waffen durch das Tal.
«Das ist die Kosovo-Polizei», sagte Michael. «Wahrscheinlich schießt sie auf Schatten. Wenn sie Dragović noch nicht geschnappt hat, wird er inzwischen über alle Berge sein.»
Immer noch unter Bäumen, überquerten sie einen Hügelkamm und stiegen bergab. Schüsse waren nun nicht mehr zu hören, wohl aber der Hubschrauber, der sich zu nähern schien. Er flog über sie hinweg, schüttelte Regentropfen vom Laubdach und drehte dann ab.
«Endlich sind wir allein, Chérie», sagte Michael mit aufgesetzt französischem Akzent. In Priština hatte er diesen Spruch immer von sich gegeben, wenn nach einem langen Abend die Gäste endlich gegangen waren. Ihn jetzt zu hören schmerzte sie.
Ohne zu eilen, setzten sie ihren Weg ins Tal fort. Die Sonne verschwand hinter Wolken; es wurde kälter. Als Abby gerade glaubte, nicht mehr weiterzukönnen, erreichten sie eine Lichtung, auf der ein kleines gemauertes Haus zwischen zwei großen Bäumen stand. Es sah nicht besonders einladend aus, besaß aber einen Kamin und ein solides Dach. Mehr brauchte Abby fürs Erste nicht.
Michael wagte es nicht, ein Feuer zu machen. Das Holz, das dafür in Frage gekommen wäre, war ohnehin viel zu nass. Abby wickelte sich in eine von Mäusen zerfressene Decke ein und ruhte sich auf einer Pritsche aus, während Michael eine Dose Bohnen auf einem Gaskocher warm machte.
«Erkläre mir, warum du noch lebst.»
«Da bist du baff, nicht wahr?» Er sah, dass sie wütend wurde, und ruderte zurück. «Verzeihung, ich weiß, das ist nicht komisch.»
Wäre sie nicht so erschöpft gewesen, hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben. «Mir ist wirklich nicht zum Scherzen zumute.»
«Verstehe.» Er öffnete eine Flasche und füllte einen Becher. Die Flüssigkeit war klar und sonderte einen scharfen Geruch ab, den Abby aus fünf Schritten Entfernung wahrnehmen konnte.
« Ŝljivovica. Der hiesige Mondschein. Davon wird dir warm werden.»
Sie nippte an dem Becher und wünschte, sie hätte eine Zigarette. Der Alkohol bewirkte, dass sich ihre Wut gut anfühlte.
«Erzähl mir alles», verlangte sie. «Warum waren wir in der Villa? Du wusstest, dass sie Dragović gehört.»
Er zögerte. Das einzige Licht im Zimmer stammte von der kleinen blauen Gasflamme, vor der nur seine Silhouette zu erkennen war.
«Sag mir die Wahrheit.» Der Schnaps brannte ihr im Hals, erreichte aber nicht ihren frierenden Kern.
Er wandte sich ihr zu. «Ja, ich wusste, es ist seine Villa. Ich bin mit dir dorthin gefahren, weil ich ihm etwas geben wollte.»
«Etwas aus der Grabkammer?»
«Ja.» Er dachte einen Moment lang nach. «Ich weiß nicht, was du inzwischen herausgefunden hast, aber so viel sei gesagt: Eine Patrouille amerikanischer KFOR-Truppen hat diese Höhle entdeckt. Ihr Bericht landete auf meinem Schreibtisch in Priština. Es war einer der glücklichen Zufälle, die das Leben bereithält.»
«Hast du dich mit Dragović in Verbindung gesetzt?»
«Ich wusste, er ist verrückt nach den alten Römern, und für eine Weile habe ich versucht, seiner Organisation näher zu kommen.»
«Näher?»
«Ich wollte an ihn ran, um ihn unschädlich zu machen.» Er regte sich nicht. Abby fühlte sich von ihm beobachtet, konnte aber im Dunkeln seine Augen nicht sehen.
«Du hast nicht für ihn gearbeitet?»
«Hat man dir das erzählt?» Er legte seine Hand auf ihren Arm, den sie aber sofort zurückzog. Für Zutraulichkeiten hatte sie jetzt nichts übrig. «Um Himmels willen, Abby. Das hast du doch hoffentlich nicht geglaubt?»
«Ich dachte, du
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