Die Geheimnisse der Toten
wärst tot.»
Die Konserve auf dem Öfchen blubberte und spritzte.
«Vermutlich weißt du alles über Dragović. Er ist der berüchtigtste Verbrecher auf dem Balkan, und das will was heißen.»
Michael drehte die Flamme herunter.
«Erinnerst du dich an Irina?»
Abby nickte. Irina war für sie eine Schwarzweiß-Fotografie auf einem Regal in Michaels Wohnung – glänzendes Haar, bleiche Haut, dunkle, wachsame Augen –, ein Foto wie die Porträts von Vermissten, die am schwarzen Brett im Regierungsgebäude von Priština aushingen. Sie hatte Michael einmal nach diesem Bild gefragt in der Annahme, die darauf abgebildete Person gehörte seiner Familie an. Sie starb im Krieg, hatte er gesagt und das Thema gewechselt.
«Irina war im Krieg von ’99 eines von Dragovićs Opfern. Ich habe Berichte gelesen, auf die ich aber nicht im Einzelnen eingehen möchte. Ich schätze, deine Vorstellungskraft reicht ohnehin aus.»
Ihre Wut war plötzlich verflogen. Sie kannte solche Geschichten. Alles, was es an Grausamkeiten und Folter gab, hatte sich während des Krieges im Kosovo zugetragen. Es hieß sogar, dass Gefangene über die Grenze nach Albanien getrieben worden waren, wo man ihnen Organe entnahm, die an reiche Kunden im Westen verkauft wurden.
«Dragović ist der Grund, warum ich in den Balkan zurückgekehrt bin. Als diese altrömischen Artefakte gefunden wurden, habe ich gehofft, ihn damit ködern zu können. Und er biss tatsächlich an.»
«Das Auswärtige Amt hält dich für korrupt.»
«Ich musste mich nach allen Seiten hin absichern. Du weißt doch, was es mit MMA auf sich hat.»
Monitor, Mentor and Advice – Anleitung, Beobachtung und Inspektion waren die Kernaufgaben der EULEX-Mission beim Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten Kosovo. Man arbeitete mit den Behörden vor Ort und versuchte, bei der Einrichtung rechtsstaatlicher Strukturen zu helfen. Es war ein Kampf gegen Windmühlen.
«Dragović hatte die halbe Regierung des Kosovo in der Tasche. MMA war für ihn ein gefundenes Fressen. Alles, was in Schriftform oder per E-Mail vom Hauptquartier abgeschickt wurde, landete auf seinem Schreibtisch. Hätte ich meine Ermittlungen bekannt gemacht …» Er seufzte. «Ich war trotzdem nicht vorsichtig genug, und dass ich dich mitgenommen habe, kann ich mir nicht verzeihen.»
«Warum hast du mich mitgenommen?»
«Ich habe nicht mehr klar gedacht. Ich wusste, dass EULEX mir auf den Fersen war, und dachte, ich würde mit Dragović unter einer Decke stecken. Verständlich. Dragovićs Leute waren auf mich angesetzt, um herauszufinden, auf welcher Seite ich stehe. Dass man gegen mich ermittelte, kam mir durchaus gelegen. Aber es war verdammt heikel. Und ich wollte natürlich nicht, dass ein EULEX-Kommando in der Villa auftauchte und mir einen Strich durch die Rechnung machte. Du weißt ja, unsere EU-Kollegen hassen nichts mehr als Wochenendarbeit. Ich dachte, wenn du mich begleitest, sieht es aus wie ein harmloser Ausflug, und man lässt uns in Ruhe.»
Er löffelte die Bohnen auf einen Teller, den er ihr dann reichte. «Tut mir leid, ich habe nur diesen einen.»
Abby hatte keinen Appetit und lehnte ab, doch er war hartnäckig. «Wann hast du das letzte Mal etwas zu dir genommen?», fragte er und setzte nach, ohne auf ihre Antwort zu warten: «Du musst was essen. Wir haben nur wenig Zeit.»
Sie nahm den Teller entgegen. Mit dem ersten Löffel, den sie zu sich nahm, wurde ihr bewusst, wie ausgehungert sie war.
«Und dann lief alles schief.» Michael setzte sich auf einen Hackklotz und schaukelte vor und zurück. «Eigentlich war nicht damit zu rechnen, dass es gefährlich werden könnte. Dragović wollte einen seiner Männer schicken – sein Name war Sloba – und die Artefakte von ihm abholen lassen. Mehr nicht. Wir zwei hätten ein schönes Wochenende gehabt, und ich wäre Dragović einen Schritt näher gekommen.»
«Der Plan ging offenbar nicht auf.»
«Sloba war von Anfang an schrecklich nervös. Vielleicht hatte er den Auftrag, mich zu töten, ich weiß es nicht. Als du dann plötzlich auf die Poolterrasse herausgekommen bist, hat er sich wohl sein Teil gedacht.»
«Er hat dich über die Klippe gestoßen», bemerkte Abby.
«Selbst ein Zoltán Dragović muss ab und zu seinen Pool sauber machen lassen. Gleich hinter dem Klippenrand gibt es eine Wartungsbrücke. Auf der bin ich gelandet.»
«Glück gehabt.»
«Als ich wieder oben war, wollte sich Sloba gerade über dich hermachen. Ich …» Michael stockte
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