Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Stunde serviert, und Hannah und Avi nahmen es wie immer gemeinsam ein. Doch als sie aus dem Speisesaal gingen, folgte ihnen ein Wachmann. Sie kehrten in ihre Zimmer zurück, um warme Wintersachen anzuziehen, und als sie wieder herauskamen, war der Wachmann immer noch da.
Der Palast wirkte ungewöhnlich geschäftig. Die Flure wimmelten von Höflingen, und gelegentlich marschierte eine kleine Abteilung Feensoldaten an ihnen vorbei. Alle hielten die Köpfe gesenkt, und ihre Mienen waren angespannt. Außerdem trugen viele Waffen. Im ganzen Gebäude herrschte ein Raunen, so als würde hinter Tausenden von geschlossenen Türen getuschelt.
Im Garten angekommen, riss Avi endgültig der Geduldsfaden. Er wirbelte herum und schrie den Wachmann an. Offenbar war er noch erschöpft von der letzten Nacht, denn als es Hannah endlich gelang, ihn zu beruhigen, konnte er sich an kein einziges Wort erinnern.
Im nächsten Moment erschien Tyrian, stellte sich lautlos zwischen Avi und den Wachmann und strich sein violettes Gewand glatt.
»Junger Herr, es ist meine Pflicht, dir mitzuteilen, dass du dich frei auf dem Palastgelände bewegen kannst. Allerdings hat Königin Arethusa mir Anweisung erteilt, sie regelmäßig über deinen Aufenthaltsort in Kenntnis zu setzen.«
»Sie lässt uns nachspionieren?«, schimpfte Hannah, so dass es nun Avi war, der sie zurückhalten musste.
Tyrian neigte den Kopf. »Es ist zu eurer eigenen Sicherheit.«
»Da lachen ja die Hühner!«
»Komm, Hannah«, meinte Avi. »Wir wollen unseren üblichen Spaziergang machen.«
»Wozu?«, gab Hannah zurück. »Der Wachhund verdirbt uns doch den ganzen Spaß.«
»Es wäre trotzdem ein Jammer, wenn wir unseren Spaziergang verpassen«, wiederholte Avi und zog sie am Arm.
»Avi, was ist los mit dir?«, wunderte sich Hannah. Dann jedoch erkannte sie offenbar etwas in seinem Blick und gab nach. »Gut, meinetwegen.«
Fünf Minuten später hatten sie den Abstand zu dem Wachmann weit genug vergrößert, dass Hannah es wagte, zu flüstern.
»Was hast du vor, Avi? Wir haben keinen ›üblichen Spaziergang‹, sondern nehmen jeden Tag einen anderen Weg.«
»Vertrau mir.« Er lächelte und beschleunigte seinen Schritt.
Fünf Minuten vor zwölf Uhr mittags erreichten sie den Eingang zum Labyrinth. Avi blieb stehen. Der Wachmann wartete in zwanzig Metern Entfernung und versuchte vergeblich, einen unauffälligen Eindruck zu machen. Tyrian war offenbar anderweitig beschäftigt, allerdings hatte Avi den Verdacht, dass er sich ganz in der Nähe herumtrieb.
»Was wollen wir hier?«, flüsterte Hannah.
Als die Palastuhr zwölf schlug, zog Avi sie ins Labyrinth. Der Wachmann folgte ihnen durch die Hecken, die – wie sie es jeden Tag dreimal taten – begannen, ihre Richtung zu verändern. Avi sah das wütende Gesicht des Wachmanns, bevor es hinter einer vorbeigleitenden Ligusterhecke verschwand. Nun waren sie endlich allein. Wenig später hatten sie den verwirrten Wachmann abgehängt und rannten aus dem Garten und über die Wiese im Norden zu dem Pfad, der zum Primrose Hill führte.
»Wie hast du aus dem Labyrinth herausgefunden?«, keuchte Hannah, während sie den Pfad hinaufstiegen.
»Ich habe es eine Woche lang jeden Tag beobachtet«, erwiderte Avi. »Angeblich wiederholt sich das Muster nie, obwohl es nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten gibt. Wenn es sie alle durch hat, fängt es deshalb wieder von vorne an.«
»Kluger Junge.«
»Es tut mir nur so leid, dass ich mein Versprechen nicht halten kann.«
»Welches Versprechen?«
»An Brucie. Ich habe ihr versprochen, ich würde sie mitnehmen, falls ich je aus dem Palast fliehen sollte. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht, weil ich mich nicht für einen Gefangenen gehalten habe.«
Auf halbem Weg blieben sie stehen, um Luft zu holen.
»Hier hatten wir die Schneeballschlacht«, meinte Hannah. Sie hatte sich, nach Luft ringend, vorgebeugt. Ihr Atem umwaberte sie wie eine riesige Wolke.
»Bald wird es wieder schneien«, sagte Avi. Dichte Wolken ballten sich am Horizont zusammen. »Ein Unwetter zieht auf.«
»Ganz recht«, ertönte da eine Frauenstimme.
Avi blickte sich erschrocken um.
Arethusa trat hinter einem dichten Ginsterbusch hervor. Ihr Gesicht zuckte vor kaum unterdrückter Wut, und ihre Augen waren beinahe schwarz geworden. Sie wurde von zwei Wölfen begleitet, die beim Anblick der Flüchtigen zähnefletschend und sabbernd vorwärts stürmten. Avi stellte sich schützend vor Hannah, aber die
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