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Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Titel: Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fairchild
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besetzten Haus getroffen hatte, nämlich ins Feenreich zurückzukehren, war ihm nicht leichtgefallen, denn er fühlte sich von den vielen Ratschlägen bedrängt. Bleib in der Welt der Sterblichen. Geh ins Feenreich. Komm her, Avi. Tu das, Avi. Es war alles so verwirrend. Und dennoch erschien ihm der Entschluss trotz der bangen Erwartung, die in ihm tobte – oder vielleicht gerade deswegen –, richtig. Er konnte nicht weiterleben, ohne zu wissen, was auf der anderen Seite lag.
    Sie kamen unter der London Bridge hervor. Rechts von ihnen lag ein Kriegsschiff aus grauem Stahl, vor ihnen erhob sich eine andere Brücke, deren Türme ihn an die Gebäude von Westminster erinnerten. Links stand eine uralte gedrungene Festung vor einem riesigen Gebäude, das aussah wie eine gläserne Gurke. Falls jemals zwei historische Epochen an einem Ort aufeinandergeprallt waren, dann hier.
    Alt und neu, zum Greifen nah.
    »Kann ich mitkommen, wenn du gehst?«, fragte Hannah. Sie biss sich auf die Lippe, so dass ihre Zähne leise an ihrem silbernen Piercing klapperten.
    »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, meinte Brucie. »Die Sterblichen sind schon vor langer Zeit aus dem Feenreich abgezogen.«
    »Du hast doch gesagt, dass einige Sterbliche daran glauben«, widersprach Hannah.
    »Außerdem ist sie meine einzige Freundin«, ergänzte Avi. Als Brucies Flügel bedrohlich zu schwirren begannen, verbesserte er sich. »Meine einzige sterbliche Freundin. Ohne sie …«
    »… wäre alles viel einfacher«, unterbrach Brucie. »Jedenfalls ist die Brücke nicht für Sterbliche bestimmt. Vorschriften. Tut mir leid.«
    Bevor Avi protestieren konnte, drückte Hannah Brucies Kopf zurück in die Tasche.
    »Hey!«, kreischte die Elfe, als Hannah den Reißverschluss zuzog und ihr dabei fast den Eichel-Hut vom Kopf stieß. »Du brauchst doch nicht gleich die beleidigte Leberwurst zu spielen!«
    »Tu ich auch nicht«, zischte Hannah mit zusammengebissenen Zähnen. »Da kommt jemand.«
    Ein junges Paar schlenderte Arm in Arm über das Deck, blieb an der Reling stehen und schaute eine Weile ins Wasser. Dann legte der junge Mann der Frau die Hand um die Taille und zog sie an sich. Sie kicherte, die beiden umarmten sich, und aus der Umarmung wurde ein Kuss, der begann, als das Boot unter der Brücke mit den Türmen hindurchfuhr, und danach noch eine Weile andauerte.
    Avi versuchte, nicht hinzustarren. Er spürte Hannahs Gegenwart neben sich auf der Bank und das Schweigen, das zwischen ihnen entstanden war. Er wusste nicht, wie er diese Kluft überbrücken sollte.
    »Glaubst du, sie hat recht?«, begann Hannah nach einer Weile.
    Das Paar hatte aufgehört, sich zu küssen. Nun flüsterten sie einander ins Ohr.
    »Brucie?«, entgegnete Avi. »In welcher Sache?«
    »Dass ich nicht mitkommen kann.«
    Avi rang nach den richtigen Worten. Es war schon schwer genug gewesen, Hannah im Savoy zurückzulassen. Wollte sie seinetwegen mit, oder hatte sie einen anderen Grund? »Ich muss gehen«, erwiderte er und starrte auf seine Füße.
    »Das ist mir klar. Aber …« Der unvollendete Satz schwebte in der Nachtluft. Am Bug lehnte die Frau den Kopf an die Schulter des Mannes. Er streichelte ihr Haar, das lang und so rot wie eine Flamme war.
    Hannah stand auf.
    »Wo willst du hin?«, erkundigte sich Avi.
    »Für kleine Königstigerinnen«, antwortete sie. »So schnell wirst du mich nicht los. Passt du bitte auf meine Handtasche auf?«
    Während sie sich auf die Suche nach den Toiletten machte, fragte sich Avi, ob Roosevelt wohl schon mit dem dritten Drink fertig war. Wenn er es sich genauer überlegte, war der dicke Mann vermutlich schon beim sechsten.
    Etwas schnitt in seine Schulter ein. Es war die Tasche mit dem ganz besonderen Buch darin. Seinem Erinnerungsbuch.
    Avi öffnete die Tasche, nahm es heraus, berührte den roten Ledereinband und strich mit dem Fingernagel über die eingeprägten Hieroglyphen auf dem Buchrücken.
    Dann schlug er das Buch auf. Er wollte es lesen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass noch mehr dahintersteckte: Das Buch wollte gelesen werden.
    Der Gedanke ließ ihm einen Schauder über den Rücken laufen, doch es war der einzige Weg, sein Gedächtnis wiederzuerlangen.
    Das Liebespaar verließ das Deck und kehrte ins Innere des Schiffs zurück, so dass Avi endlich allein war.
    Er beugte sich über das Buch und schmeckte …

    … heiße Luft, so heiß, dass es mir die Kehle versengt. Schwarzer Qualm weht an hellen

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