Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
kommt ganz sicher aus dem Feenreich?«
»In der Tat, mein guter Mann.«
»Deinen guten Mann kannst du dir sonst wohin schieben. Wenn du der bist, der zu sein du behauptest, beweise es.«
»Lass uns ein, dann werden wir …«
»Beweise es jetzt!«
Lange Zeit herrschte Schweigen. Roosevelt wischte sich die Stirn mit seinem getupften Taschentuch ab, dann warf er Avi einen Blick zu, senkte die Stimme und begann:
»In seinem Neid will Oberon den Knaben rauben,
Durchkämmen seine Ritter Wald und Flur;
Doch sie lässt sich das liebste Kind nicht nehmen,
Bekränzt mit Blumen und verzärtelt ihn.
Nun werden sie ihn niemals mehr ergreifen
Weder in Au, am Brunnen nicht, nicht unterm Sternenzelt.
Aber die Elfen voller Angst erbeben
Huschen in Eichelbecher, retten so ihr Leben.«
Wieder Shakespeare, vermutete Avi. Dabei klang dieser Fugit nicht unbedingt wie ein Freund von Gedichten. Avi hielt den Atem an.
Die runde Tür erbebte und rollte dann lautlos zur Seite wie eine riesige Münze aus Holz.
»Kommt rein«, sagte die Stimme.
Im ersten Moment glaubte Avi, im Weltall zu schweben, denn vor ihm erhob sich eine gewaltige, gespenstisch weiße Scheibe. Aber der Mond konnte es nicht sein, denn die Oberfläche war mit geometrischen Linien und eigenartigen Runen bedeckt. Lange Schatten reichten von der Mitte bis fast zum Rand.
Tatsächlich handelte es sich um eine von vier Scheiben, von denen jede eine ganze Wand des viereckigen Raums einnahm, in dem sie standen. Bald bemerkte Avi, dass die Schatten sich ganz langsam bewegten, und er begriff, dass er die Rückseiten der vier riesigen Zifferblätter des Saint Stephen’s Tower vor sich hatte.
Eine Minute später wiesen alle vier langen Schatten senkrecht nach oben. Die kürzeren Schatten zeigten genau nach rechts. Spiegelverkehrt. Es war Punkt neun Uhr.
Von irgendwo unterhalb der Kammer ertönte ein leises Surren. Und in der nächsten Sekunde erklang das lauteste Geräusch, das Avi je gehört hatte.
Es war zwecklos, sich die Ohren zuzuhalten. Die Glocken von Saint Stephen’s stimmten wie schon seit Hunderten von Jahren ihr traditionelles stündliches Geläut an. Danach entstand eine Pause, als ob ein Riese Atem schöpfte. Der Riese war natürlich Big Ben, und er schlug genau neun Mal. Als er fertig war, fühlte sich Avis Schädel an wie zerbrochenes Porzellan.
Er bemerkte, dass seine Freunde nicht mehr bei ihm waren, und machte sich auf die Suche nach ihnen.
Der Raum ähnelte einem großen Speicher, in dessen Mitte ein Mechanismus stand, der Avi an das Planetarium in Greenwich erinnerte. Enorme Klinken klickten unter Sperrhaken, Getriebe drehten sich, spiralförmige Drähte trieben Zahnräder an, die ewig um sich selbst kreisten. Als Avi in das Gerät hineinspähte, erkannte er angespannte Lederbänder, Winden und leuchtende Glühfäden, die zwischen angelaufenen Elektroden aus Metall elektrische Funken sprühten. In den untersten Tiefen des Geräts befanden sich Gebläse und riesige summende Gegenstände, die eher wie Insekten aussahen. Ein gewaltiges Pendel schwang hin und her. Öl tropfte. All die beweglichen Teile erzeugten eine Symphonie aus Klicken und Klappern, die sich zu einem übermächtigen, steten Tick-Tack vereinten.
Neben dem Uhrwerk waren einige Möbelstücke angeordnet, welche den Eindruck erweckten, als hätte sie jemand aus verschiedenen Epochen wahllos zusammengewürfelt. Ein Schreibtisch aus Mahagoni, die Platte mit Leder überzogen und mit Polsternägeln versehen, war auch dabei. Darauf standen ein Globus und ein Blumentopf nur mit Erde darin. Eine in einer Ecke angebrachte Hängematte diente als Bett. Vor dem Uhrwerk befand sich ein elegant geschwungener Polstersessel mit Fußschemel. Der Esstisch, ausgestattet mit vier Stühlen, bestand aus Glas. Abgerundet wurde die Möblierung von einem großen Flachbildschirm und einem Grammophon auf einem niedrigen Tisch. Ein Gaskamin verbreitete orangefarbenes Licht. Auch der Bewohner des Raums selbst schien sich an keine bestimmte Stilrichtung zu halten. Er trug überdimensionale Hauspantoffeln, eine hautenge Reithose und eine elegante, gerüschte Abendjacke aus violettem Wildleder über einem Netzunterhemd. Ständig trat er von einem Fuß auf den anderen oder kratzte sich am Kopf, aus dem langes, verfilztes Haar wuchs.
Bei Avis Anblick blieb er stehen. »Ist er es?«, fragte er. »Ziemlich groß geworden, was?«
Avi bemerkte, dass sich auf dem Schreibtisch etwas bewegte. Langsam schob sich ein
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